29 Interview mit Cem Özdemir

„Dicke Tischplatte für Mappus“

Der Bundesvorsitzende der Grünen fordert die CDU zur "radikalen Kehrtwende" auf

Interviewer: HELGE THIELE, JOA SCHMID | NWZ 29.07.2010


Der Bundesvorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, hat sich bei einem Besuch in Bad Boll skeptisch über die Chancen für eine schwarz-grüne Koalition in Baden- Württemberg geäußert.

In einer Umfrage liegt Rot-Grün im Land erstmals vor Schwarz-Gelb. Die Grünen rangieren mit 20 Prozent nur fünf Prozentpunkte hinter der SPD. Ist Ihre Partei auf dem Weg zu einer Volkspartei, Herr Özdemir?
CEM ÖZDEMIR: An der Spitze der Grünen steht mit mir ja ein Vollschwabe, und Claudia Roth (bildet zusammen mit Özdemir das Führungsduo der Partei, Anm. d. Red.) hat ihre Wurzeln ebenfalls im Schwäbischen. Das hilft uns, dass wir nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Unter meiner Schuhsohle ist keine Zahl draufgeklebt, und da kommt auch keine hin. Wir sehen die guten Umfragen als eine Ermutigung, aber auch als eine Verpflichtung, dass wir die Menschen, die über die Stammwähler hinaus bei den Grünen reinschnuppern, zu überzeugten Grünen-Wählern machen. Dafür müssen wir hart arbeiten und den Leuten auch auf Dauer das Gefühl geben, dass sie in der richtigen Partei sind. Es besteht also kein Anlass, dass wir uns auf die Schulter klopfen und sagen, das ist ein g’mäht’s Wiesle.

Andere Parteien tun sich aber gerade schwer. Die FDP liegt in den Umfragewerten am Boden, das kommt den Grünen sehr zugute.
ÖZDEMIR: Ich bin realistisch genug zu sehen, dass ein Teil unserer Stärke auch mit der Schwäche der anderen zu tun hat. Wir haben momentan eine Regierung, die sich alles andere als bürgerlich verhält, wenn man sieht, dass die sich streiten wie die Kesselflicker und Frau Merkel keinerlei Visionen mehr hat, außer Kanzlerin zu sein. Ein bisschen mehr sollte es aber schon sein angesichts der Probleme in unserem Land.

Bei den Grünen fällt auf, dass sie thematisch viel breiter aufgestellt sind als noch vor zehn Jahren . . .
ÖZDEMIR: Das ist richtig. Wirtschaft, aber auch Bildung gehören inzwischen zu den Themenfeldern, die man früher vielleicht nicht so sehr mit den Grünen in Verbindung gebracht hat. Früher waren die Grünen die Ökologie-Partei. Das sind sie nach wie vor. Man denkt aber auch zunehmend an die Grünen, wenn es um Wirtschaftsfragen geht, aber immer in Verbindung zu unserer Kernkompetenz. Wir denken Wirtschaft zusammen mit Ökologie, das ist alternativlos. Auch im Bereich Bildung sehen die Grünen nicht die ökonomische Verwertbarkeit des Schülers, sondern Bildung sieht bei uns den ganzheitlichen Menschen. Dazu gehört natürlich, dass Kinder in gute Kindergärten, Schulen und Universitäten gehen. Dazu gehört auch, dass sie etwas wissen über die Schöpfung und dass sie sich gesund ernähren – also im ganz umfassenden Sinn. Gerade in Baden-Baden-Württemberg ist es wichtig, dass wir Menschen ansprechen, für die Gerechtigkeit wichtig ist – aber anders als es die Linkspartei macht. Auch Liberalität spielt bei uns eine wichtige Rolle, aber anders buchstabiert als bei der FDP. Liberalität ist für uns nicht der Glaubenssatz ,Privat vor Staat‘ und ,Freiheit des Marktes über alles‘, sondern heißt für uns auch Freiheit in Verbindung mit Verantwortung und Bürgerrechten. Auch das Wertkonservative hat bei uns eine Heimat, aber anders als bei den Christdemokraten. Wir wollen nicht Strukturen um der Strukturen willen bewahren, sondern schauen genau hin, was sich vom Vorhandenen bewährt hat und ob es für künftige Generationen bewahrt werden sollte. Und dazu gehört auch die Bewahrung der Schöpfung.

Wie halten Sie es denn dann mit der Option einer schwarz-grünen Koalition nach der Landtagswahl?
ÖZDEMIR: Koalitionen sind immer Zweckbündnisse auf Zeit, sie sind keine Modelle. Ich bin Anhänger von gar keinem Modell, ich bin Anhänger der Grünen. Es ist nun mal so, dass wir als Grüne auf absehbare Zeit nicht allein werden regieren können, also brauchen wir Partner für unsere Politik. Da schauen wir uns immer ganz sachlich an, mit wem wir grüne Politik am besten umsetzen können.

Und geht’s in Baden-Württemberg mit der CDU?
ÖZDEMIR: Das geht nur dann, wenn die CDU bereit ist, eine radikale Kehrtwende einzuleiten. Angefangen beim Thema Atom: Mit uns gibt’s keine Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke, weil wir die Energieform für nicht beherrschbar halten. Sie übersteigt das menschliche Maß, sie hinterlässt Müll, den wir für Jahrmillionen von der Außenwelt fernhalten müssen, ohne dafür eine Lösung zu haben. Wir haben ja jetzt schon Probleme, innerhalb der relativ kurzen Zeitspanne, in der es Atomkraftwerke gibt. Da gibt’s keinen Spielraum für uns, das ist für uns eine Grundüberzeugung. Entweder man glaubt ans Leben und nimmt die Bewahrung der Schöpfung ernst, oder nicht. Da gibt’s keinen Kompromiss. Da haben wir keinen Verhandlungsspielraum. Die Menschen, die uns wählen, wählen uns, weil sie darauf vertrauen, dass wir uns für Nachhaltigkeit einsetzen.

Das ist aber doch eine recht deutliche Absage an alle schwarz-grüne Träumereien, die es ja auch in Ihrer Partei immer wieder gibt? Oder trauen Sie der CDU diese radikale Kehrtwende zu?
ÖZDEMIR: Na ja, Peter Müller (CDU-Ministerpräsident im Saarland, Anm. d. Red.) ist ja inzwischen auch ein großer Atomkraftgegner. Wir gestehen Menschen zu, dass sie sich ändern können und wollen. Das gehört zum Konzept der Grünen und zu ihrem Menschenbild. Auch für den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus sind also Lernprozesse nicht ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil. Aber die Tischplatte, in die er beißen müsste, wäre sicherlich eine sehr dicke. Das gilt auch für die Bildungsfrage. Uns sind die Gymnasialkinder genau so wertvoll und lieb wie die Kinder, die auf andere Schulen gehen. Auch da unterscheiden wir uns von der Union in Baden-Württemberg. Für uns gibt’s keine Kinder erster, zweiter und dritter Klasse.

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Zur Person

Autor: | NWZ 29.07.2010


Cem Özdemir wurde 1965 in Bad Urach geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Özdemir ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Der gelernte Erzieher wurde 1994 als erster Abgeordneter türkischer Herkunft in den Bundestag gewählt, dem er bis 2002 angehörte. Von 2004 bis 2009 war Özdemir Europaabgeordneter. Daneben ist Cem Özdemir auch publizistisch tätig. Unter anderem veröffentlichte er das Buch "Currywurst und Döner – Integration in Deutschland".

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