Kosten und Nutzen der ICE-Strecke infrage gestellt
Gutachten Die Projektgegner werfen Bund und Bahn vor, die Trasse zwischen Wendlingen und Ulm schönzurechnen.
Autor: JÖRG NAUKE | StZ 08.09.2010
Die Grünen präsentieren heute eine „Prognose der wahrscheinlichen Projektkosten der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm". Der Bundestagsabgeordnete Winfried Hermann hat in das Gutachten des Büros Vieregg & Rössler geschaut und von Gesamtkosten von fünf Milliarden Euro für die 58 Kilometer lange Strecke gelesen; die Bahn dementierte prompt. Die Zahl deckt sich mit Erkenntnissen des Büros von 2006. Damals kam es auf 4,6 Milliarden Euro, die Bahn sprach damals noch von zwei Milliarden Euro, heute von 2,9 Milliarden. Die Mehrkosten trägt der Bund. Verkehrsminister Peter Ramsauer will aber das Land und die Bahn mit ins Boot holen.
Bis Jahresende will er eine neue Kosten-Nutzen-Rechnung für die Neubaustrecke vorlegen. „Der Spiegel" berichtet, das Vorhaben sei herabgestuft worden, der Bedarf sei nicht mehr „vordringlich". Das verwundert bei der Bahn niemanden.
In einem „Argumentationspapier" von 2007 sind die „wesentlichen Engpässe" im Schienennetz benannt worden, die beseitigt gehörten – von Kapazitätsproblemen zwischen Stuttgart und Ulm war nicht die Rede. In einem Gutachten des Umweltbundesamts sind fünf Korridore für den steigenden Güterverkehr genannt; auch hier fehlt die von den Befürwortern des Projekts Stuttgart-Ulm so vehement geforderte Trasse. Deren wichtigstes Argument, ohne beschleunigte Verbindung in Richtung Bratislava werde Stuttgart vom internationalen Hochgeschwindigkeitsverkehr abgehängt, hat unlängst ein hochrangiger Bahn-Mitarbeiter kassiert: „Stuttgart wird immer von ICE angefahren, weil wir hier viele Fahrgäste abholen", sagte er gegenüber der StZ.
Die Grünen versuchen, Stuttgart 21 zu verhindern, indem sie der Neubaustrecke, für die sie viele Jahre lang aus ökologischen Gründen plädiert hatten, Unwirtschaftlichkeit attestieren und ihre Notwendigkeit anzweifeln. Der Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter hat gehört, der Kosten-Nutzen-Faktor für die Trasse läge nur noch minimal über der Untergrenze von 1,0. Damit dürfte sie der Bund finanzieren. Diese Kalkulation lässt sich allerdings leicht beeinflussen, indem man hohe Zugzahlen prognostiziert oder die Baukosten niedrig schätzt. Genau dies werfen die Grünen Bund und Bahn vor.
Die Neubaustrecke soll die bestehende Trasse entlasten, die bei 240 Zügen täglich an ihre Grenzen stößt; es drohe mit 410 Zügen pro Tag der Kollaps, so die Prognose für 2015, die auf dem Bundesverkehrswegeplan 2003 fußt. Geplant ist deshalb, den Fernverkehr (114 Züge täglich) zur Entlastung auf die Neubaustrecke zu verlegen. Tatsächlich herrscht wenige Jahre vor dem Prognosejahr 2015 auf der Altstrecke so wenig Verkehr, dass eine Verlagerung des Fernverkehrs aus Kapazitätsgründen nicht nötig wäre.
Die Bahn nannte für einen Durchschnittstag 2009 gerade einmal 209 Züge, davon waren nur 50 Güterzüge – täglich 80 weniger als geplant. Die Güterzüge fahren vermehrt über Würzburg und Gemünden, weil diese Trasse komfortabler ist als die über die Geislinger Steige.
Ein entscheidender Faktor für die Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke sind die prognostizierten „schnellen, leichten Güterzüge". Für diese Transportart ist zwar kaum ein Bedarf in Sicht, doch sie stehen in der Kosten-Nutzen-Rechnung. Die im Netzwerk Privatbahnen (NP) vereinte Konkurrenz glaubt, die DB kalkuliere diese Züge nur ein, um über die magische Grenze von täglich 150 Zügen zu kommen und die Deklaration als Mischbetriebsstrecke zu vermeiden. Diese ließe nur 1,2 Prozent Steigung zu – die Neubaustrecke ist bis zu 3,5 Prozent steil.
Dass die Bahn nicht die Absicht habe, dort Güterzüge fahren zu lassen, zeigt laut NP die Überleitung von der Neckartalbahn auf die Neubautrasse. Die Nutzlänge für haltende Züge betrage nur 482 Meter – für einen langen Güterzug sei das zu wenig, so dass er Züge von Tübingen aufhalten werde. Die Antwort der Bahn: Man wisse um die Möglichkeiten, die Nutzlänge zu erhöhen, verzichte jedoch darauf. Bei Bedarf könnte sie das nachholen.