25 Verkehr (Lehle)

Wie groß muss der Protest noch werden?

Geislinger Stadt- und Kreisrat: Das Ökologische an dem Mega-Projekt erschließt sich mir nicht

Interviewer: RODERICH SCHMAUZ | GZ 25.09.2010. In der NWZ erschien am selben Tag eine um die letzten beiden Fragen/Antworten und um die letzten zwei Sätze der Antwort davor gekürzte Version des Interviews unter der Überschrift: "Der Protest ist nicht neu. Der Geislinger Stadt- und Kreisrat: Stuttgart 21 hat nichts Ökologisches"

Der Geislinger Stadt- und Kreisrat Bernhard Lehle ist ein profilierter Vertreter der Grünen, und er gehört zu den entschiedenen Gegnern von Stuttgart 21. GZ-Redakteur Roderich Schmauz befragte ihn dazu.


Warum kommt der Protest gegen Stuttgart 21 so spät? Wie kommt es zu dieser offenbaren Kluft zwischen breiter politischer Mehrheit und Stuttgarter Bevölkerung?
BERNHARD LEHLE: Der Protest kommt nicht erst jetzt. Seit Jahren haben Bürgerbewegungen, Umweltverbände und viele andere gegen das Mega-Projekt argumentiert. Verschiedene Studien stellten die Notwendigkeit, Machbarkeit und Finanzplanung infrage. Auch der Bundesrechnungshof hat die geplante Tieferlegung des Bahnhofs in Stuttgart massiv gerügt. Man darf auch nicht vergessen, dass seit Beginn der Diskussion über S 21 nun 15 Jahre vergangen sind. In dieser Zeit hat sich der politische Beteiligungswille der Bürger weiterentwickelt. In immer mehr Städten wird versucht, mit Bürgerbegehren Entscheidungen der politischen Gremien zu ändern. Im Mai 2008 hat der Stuttgarter Gemeinderat ein Bürgerbegehren, von 67 000 Bürgern unterschrieben, abgelehnt.

In dieser Zeit sind immer mehr Halb- und Unwahrheiten über das Projekt bekannt geworden. Für mich ist es nachvollziehbar, dass bei der Bevölkerung irgendwann ein Punkt erreicht war, an dem sie sich nicht länger verschaukeln lassen will. Mit dem Beginn der Abrissarbeiten wurden aus diesen stillen Protestierern Menschen, die laut und sichtbar auf die Straße gehen.

Was haben Sie gegen das Öko-Bahnprojekt Stuttgart 21?
LEHLE: Mir hat sich das Ökologische daran noch nicht erschlossen. Wenn 250 alte Bäumen fallen, wenn Mineralquellen gefährdet sind und Grundwasserpegel gesenkt werden müssen, wenn hunderte Hektar Fläche zugebaut werden, Millionen Tonnen Gestein gesprengt, umgegraben und herumgefahren werden, kann man kaum von „öko“ sprechen.

Das für mich wichtigste Argument ist aber das der unabsehbaren Kosten. Die offiziellen Kostenschätzungen lagen lange kaum über den Mitte der 90er Jahren geschätzten 2,5 Milliarden Euro, was unabhängige Gutachter und der Bundesrechnungshof zunehmend als unglaubwürdig kritisierten. Neuerdings rechnet die Bahn selbst mit 4,1 Milliarden Euro, was aber nur gelang, indem sie angebliche Kostensenkungen aus dem Hut zauberte. Unabhängige Fachleute rechnen mit mindestens 6 bis 7 Milliarden.

Mit diesem Geld könnte man viele andere notwendige Maßnahmen finanzieren – angefangen beim behinderten- und kinderwagengerechten Umbau des Geislinger Bahnhofs. Weitere Argumente sind: Eine mindestens zehnjährige Bauzeit und keine ernsthafte Planung einer Alternative, wie dem Aus- und Umbau des bestehenden Kopfbahnhofs.

Neuerdings lehnen die Grünen offenbar auch die Schnellbahntrasse Wendlingen – Ulm ab.
LEHLE: Auch hier werden im Halbjahreszyklus die Kosten nach oben „korrigiert“ und liegen nach anfänglichen 1,5 Milliarden derzeit bei 2,9 Milliarden Euro. Das von den Grünen beauftragte Büro Vieregg-Rößler, das sein Gutachten anhand der tatsächlichen Kosten vergleichbarer Streckenabschnitte erstellt hat, geht im Optimalfall von 4,6 Milliarden Euro, im wahrscheinlichen Fall von 5,3 und im schlimmsten Fall von 10 Milliarden Euro aus. Auf dieser neuen Strecke werden allenfalls drei bis fünf ICEs pro Stunde und Richtung fahren. Die Strecke ist steiler als die Geislinger Steige und damit für den schweren Güterverkehr nicht tauglich. Der in den offiziellen Plänen angeführte leichte Güterverkehr existiert leider nur auf dem Papier, den gibt es nicht. Wir Grünen haben das Projekt lange befürwortet, aber bei den nun vorliegenden Kostenschätzungen sage ich: Das ist es wirklich nicht wert!

Das Büro Vieregg-Rößler gräbt als Alternative die K-Trasse aus, über die man vor 20 Jahren diskutiert hat.
LEHLE: Das Büro Vieregg-Rößler erwähnt diese Planung, die es ja tatsächlich gab, bemerkt aber dazu: „Da diese Neubaustrecke (K-Trasse) zweifellos einen beträchtlichen baulichen Aufwand mit starken Eingriffen in die Landschaft und vermutlich relativ hohen Investitionskosten bedeutet, vor allem aufgrund der sehr problematischen geologischen Verhältnisse beim Tunnelbau im Bereich Geislingen, aber nur eine unzureichende Fahrzeitreduktion bewirkt, ist zu fragen, ob dieser Aufwand überhaupt gerechtfertigt ist. Denn die genannte Fahrzeitverringerung zwischen Stuttgart Hbf und Ulm Hbf im ICE-Verkehr ließe sich vermutlich auch durch die Verwendung von Zügen mit Neigetechnik auf der bestehenden Trasse erreichen, sodass die aufwendige Neubaustrecke entbehrlich wäre.“ Für mich ist das kein Ausgraben, sondern ein kritisches Erwähnen einer Alternativlösung mit gleichzeitiger Absage an die Realisierungschancen.

Erst jüngst sagte ein im Kreistag vorgestelltes Gutachten: Ohne Stuttgart 21 und die Schnellbahntrasse keine Kapazität für einen echten S-Bahn-Takt ins Filstal. Dazu wäre ein weiteres, neues Gleis nötig.
LEHLE: Glauben Sie, dass bei dem finanziellen Aufwand für Stuttgart 21 noch Geld für eine S-Bahn ins Filstal bleibt? Die S-Bahn scheitert bislang nicht an den fehlenden Schienenkapazitäten, sondern am fehlenden Geld. Technisch ist eine S-Bahn laut Machbarkeitsstudie schon heute gar kein Problem. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wer die S-Bahn mit der Fertigstellung von Stuttgart 21 verknüpft, erreicht damit nur, dass sich in den nächsten 15 bis 20 Jahren hier im Kreis erst mal gar nichts tut!

Über S 21 und die Schnellbahntrasse haben demokratisch gewählte Gremien jahrelang beraten und dann entschieden. Gehört es nicht zur Demokratie, solche Entscheidungen dann zu akzeptieren?
LEHLE: Die Kritiker wenden sich ja nicht gegen demokratisch legitimierte Gremien, sondern appellieren an diese, ihre Entscheidungen zu revidieren. Dass das in einer repräsentativen Demokratie möglich ist, macht uns die schwarz-gelbe Regierung derzeit doch selbst mit ihren AKW-Laufzeitverlängerungen vor! Und im Fall von S 21 und der Schnellbahnstrecke gäbe es weit bessere Gründe: Denn die Annahmen, die diesen Entscheidungen zugrunde lagen, stimmen nicht mehr, insbesondere die Kostenschätzungen! Aber auch die einst befürchteten Kapazitätsengpässe sind nicht in dieser Form eingetreten. Wenn gewählte Gremien einen so starken Bürgerwillen spüren wie zurzeit, gehört es zum demokratischen Verständnis, diesen anzuhören und entscheiden zu lassen. (Hier endet das Interview in der NWZ. In der GZ geht’s wie folgt weiter.) Ich bin mir sogar sicher, dass gerade diese Ignoranz des Bürgerwillens ein starker Antrieb der Protestbewegung ist.

Egal, ob es zu einer Bürgerbefragung kommt oder ob die Landtagswahl zur Volksabstimmung umfunktioniert wird: In jedem Fall muss bis dahin erst einmal der Bau gestoppt werden. Sonst ist es eine Farce!

Die Projektbefürworter sind Schönrechner, die Fachplaner unfähige Dilettanten, die Politiker lügen ohnedies, alle führen uns in den Ruin: Sind das nicht Totschlagargumente der Stuttgart-21-Gegner?
LEHLE: Im Gegenteil: Wer die offiziellen Kalkulationen und Planungen hinterfragt, ist damit zwangsläufig mittendrin in der schönsten, anregendsten und detailverliebtesten Sachdiskussion. Ich war schon auf vielen Demonstrationen, aber noch nie habe ich so viele Reden gehört, die fast genauso auf einem Fachseminar hätten gehalten werden können. Im Kern ist diese Debatte ein Gutachterstreit, was es für Laien manchmal schwierig macht – und in den meisten Fragen des Tunnelbaus und der Fahrplankonstruktion bin natürlich auch ich Laie. Gewiss spielt es hierbei eine große Rolle, welches Vertrauen die verschiedenen Gutachter bei den Laien genießen, und die Befürworter haben in den Augen der meisten ihr Vertrauen verspielt.

Wie soll es weitergehen? Ein Ausstieg jetzt noch käme wohl teuer – und man stünde wieder vor einer jahrzehntelangen Diskussion. So setzt sich ein Land selber schachmatt.
LEHLE: Schachmatt setzt sich das Land ohne S 21 und ohne Schnellbahntrasse wirklich nicht. Der Ausstieg muss auch nicht teuer kommen: Es sind mit Bund, Land, Stadt Stuttgart und der Deutschen Bahn vier Vertragspartner am Tisch, die alle in staatlicher Hand sind. Gebaut wurde bislang ja kaum etwas.

Stellen Sie sich einen Häuslesbauer vor, der seinem Architekten den Auftrag gibt, ein Haus für 500 000 Euro zu planen. Der Bauherr gibt den Auftrag, der Bagger kommt und beißt einmal in den Boden. Dann kommt der Architekt und sagt: Das Haus kostet jetzt wohl eine Million und sieht anders aus. Glauben Sie, der Häuslesbauer wird sagen: Wir machen weiter, weil wir ja schon einmal in den Boden gebissen haben?

Es müssen sich doch die Befürworter fragen lassen, wie hoch die Baukosten noch werden müssen, bis es auch ihnen zu teuer wird. Und als Demokraten müssen sie sich fragen lassen, wie groß die Ablehnung in der Bevölkerung werden muss, dass sie ihre Entscheidung hinterfragen.

Zur Person (nur in der NWZ)

Geboren 1963 in Geislingen; dort aufgewachsen; verheiratet, eine Tochter
Abitur am Helfenstein-Gymnasium 1984; 1988 bis 1992 Betriebswirtschaftsstudium an der Hochschule in Geislingen mit Vertiefung Logistik und Unternehmensführung; Dipl.-Betriebswirt (FH)
Betriebsleiter beim Entsorgungsunternehmen ETG/ DU in Göppingen
Seit 1994 für die Grün-Alternative Liste im Geislinger Gemeinderat, seit 1999 Kreisrat für Bündnis 90/Die Grünen; sehr gute Wahlergebnisse bei der Kommunalwahl 2009
Landtagskandidat der Geislinger Grünen 2011

zur vollständigen, nicht gefruckten Fassung des Interviews…

zum Gespräch mit Jörg Matthias Fritz im Rahmen dieser Reihe…

zurück zur Presseübersicht September 2010…