02 Verkehr (Razavi)

„Geld in das Zukunftsprojekt ist gut angelegt“ (Interview)

INTERVIEW MIT DER STUTTGART 21-BEFÜRWORTERIN NICOLE RAZAVI
Die CDU-Landtagsabgeordnete: S 21 ist wichtig, demokratisch legitimiert und wird gebaut

Interviewer: RODERICH SCHMAUZ | GZ 02.10.2010.

Die Position der CDU-Landtagsabgeordneten Nicole Razavi ist eindeutig: Stuttgart 21 ist sehr wichtig, demokratisch legitimiert und wird gebaut. Das sagte sie im Interview mit Roderich Schmauz von der GZ.




Der Streit um Stuttgart 21 ist eskaliert. War der Einsatz der Polizei noch verhältnismäßig?
NICOLE RAZAVI: Mich macht das sehr betroffen. Aber klar ist: Staat und Polizei haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass demokratische Entscheidungen und Bürgerrechte – und hierzu gehört auch eine Baugenehmigung – durchgesetzt werden. Das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit endet dort, wo Nötigung beginnt. Keiner steht über dem Recht! Die Polizei hat fünf Stunden gebraucht, um 300 Meter zum Fällen von 25 Bäumen abzusichern. Schon das zeigt, die Polizei ist sehr umsichtig vorgegangen. Aber wer nach mehrfacher Aufforderung zu gehen, bleibt, weiß, dass er irgendwann weggetragen und zum Gehen gezwungen wird. Niemand muss vor Wasserwerfern sitzen bleiben. Ich frage mich: Warum werfen scheinbar friedliche Demonstranten Feuerwerkskörper, Flaschen und Bierbänke gegen Polizisten, warum sind Schüler und Lehrer mit ganzen Schulklassen um 10 Uhr morgens im Park statt in der Schule. Und was geht in Eltern vor, die ihre Kinder als menschliche Schutzschilde instrumentalisieren und in die erste Reihe stellen?

Zehntausende protestieren Woche für Woche gegen Stuttgart 21. Da ist doch etwas total schiefgelaufen?
NICOLE RAZAVI: Ja und nein!
Nein, weil die Entscheidung für das Bahnprojekt Stuttgart 21 ja nicht urplötzlich kam, sondern ein jahrzehntelanger transparenter Prozess voranging. Jeder konnte sich in vielen Jahren über die Medien informieren. Über 10 000 Einsprüche und 60 Alternativen wurden vielfach geprüft und wieder verworfen. In den frei gewählten Parlamenten von Stadt, Region, Land und Bund wurde jeweils mit großen Mehrheiten zugestimmt. Auch Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sind ein wichtiger Teil unseres Rechtsstaates. Allerdings gilt in unserer repräsentativen Demokratie auch, dass eine rechtsstaatliche Entscheidung vom Bürger schließlich zu akzeptieren ist.
Ja, weil die Gegner dieses Projekts über 15 Jahre die Möglichkeit hatten, ihren Protest anzubringen, sich konstruktiv einzubringen und Alternativen vorzuschlagen. Dass diese Welle des Protests erst nach der Entscheidung losgetreten wurde und die Menschen mit falschen Behauptungen und Halbwahrheiten verunsichert werden, ist kein Zufall. Allerdings hat dies weniger mit S 21 zu tun, als mit politischer Stimmungsmache. Klar ist aber auch, dass die Öffentlichkeitsarbeit für dieses Projekt nicht optimal war.

Sie rufen nun zu einer Initiative pro Stuttgart 21 im Landkreis auf. Wie soll die aussehen?
RAZAVI: Das Bahnprojekt S 21 ist eine riesige Chance für Baden-Württemberg und die Landeshauptstadt. Auch unser Landkreis, die gesamte Region und die Menschen, die hier leben, werden erheblich profitieren: Wirtschaft und Infrastruktur werden gestärkt und damit Arbeitsplätze gesichert. Der Regional- und Nahverkehr auf der Schiene in Richtung Stuttgart und Ulm kann weiter verbessert werden und es werden die Voraussetzungen für einen S-Bahnverkehr ins Filstal geschaffen. Deshalb ist es uns wichtig, in einer Initiative, die von allen Abgeordneten, der Region, dem Landkreis, den Städten und Kommunen, wie auch von Wirtschaft und Handwerk unterstützt wird, ein deutliches Zeichen für S 21 zu setzen, zu werben, darüber zu informieren und die Menschen hierfür zu gewinnen. Eine so umfassende Initiative ist im Land bislang einmalig.

Welches sind aus Ihrer Warte die Hauptargumente für Stuttgart 21, welches für die Schnellbahntrasse Wendlingen-Ulm?
RAZAVI: Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Baden-Württemberg ist als exportabhängiges Land auf eine gute Verkehrsinfrastruktur angewiesen. Der volkswirtschaftliche Nutzen ist immens, Arbeitsplätze werden gesichert und neue geschaffen. Mit der NBS wird das Land in das europäische Schienennetz der Zukunft Paris-Stuttgart-Ulm-München-Wien-Budapest eingebunden, Flughafen und Messe werden ans Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen, Fahrzeiten verkürzt, der Landkreis ist besser angebunden, der Umweltschutz wird verbessert, Verkehr wird von der Straße auf die Schiene verlagert, Abgase und Lärm reduziert. Der unterirdische Durchgangsbahnhof wird viel leistungsfähiger sein. Der alte Kopfbahnhof ist baulich und von seiner Kapazität her am Ende. NBS, Regionalverkehr, Autobahn, Messe und Flughafen werden mit kürzeren Fahrzeiten intelligent verknüpft, Umsteigen reduziert und vereinfacht. Stuttgart wird schöner: Wo heute Gleise liegen, entsteht mit 20 Hektar neuer Grünflächen eine grüne Lunge, über 5000 Bäume werden gepflanzt.

Schrecken Sie die steigenden Milliardenkosten nicht?
RAZAVI: Natürlich kostet das Bahnprojekt viel Geld. Es ist aber eine Investition über zehn Jahre und der Nutzen fürs Land und für uns alle wird um ein Vielfaches höher sein. Der Anteil des Landes ist übrigens geringer, als unser jährlicher Beitrag in den Länderfinanzausgleich. Wer S 21 ablehnt, muss auch ehrlich die Folgen und die schlechteren Alternativen benennen, die übrigens auch nicht umsonst und ohne Kostensteigerung zu haben sind: Baden-Württemberg gerät aufs Abstellgleis, zentrale Verkehre laufen am Land vorbei, zum Beispiel über die Strecke Frankfurt- München. Das käme uns viel teurer als die jetzt notwendigen Milliardeninvestitionen. Allein der Vorschlag K 21 würde zirka 3,7 Milliarden Euro kosten, weil der Kopfbahnhof und das Gleisvorfeld saniert werden müssten und eine neue Verbindung zur NBS benötigt wird, für die es keinerlei Planung gibt. Das alles wären höhere Ausgaben ohne Verbesserungen.
S 21 ist eine Investition für die nächsten 100 Jahre und mehr. Es ist eine Investition in die Zukunft, in die Menschen nach uns. Gemessen daran ist das Geld gut angelegt.

Was wäre, wenn S 21 und die Schnellbahntrasse nicht gebaut würden? Welche Auswirkungen hätte das für den Kreis Göppingen?
RAZAVI: Für Land und Kreis wären sie verheerend: Wir wären dauerhaft von den zentralen europäischen Verkehrsachsen abgehängt. Die Investitionen würden in Verkehrsprojekte in andere Bundesländer fließen. Wer vom Export lebt, kann sich dies nicht erlauben. Im Kreis müsste die Strecke zwischen Stuttgart und Ulm auf alle Fälle beschleunigt und das Problem Geislinger Steige gelöst werden. Das von den Grünen in Auftrag gegebene Vieregg-Rößler-Gutachten beschreibt ja dieses Horrorszenario: Zwei weitere Gleise durch das Filstal, Brücken, Viadukte und ein Tunnel zwischen Kuchen und Amstetten, hohe Lärmschutzwände entlang der Strecke – dafür müssten über Kilometer Häuser abgerissen werden! Unvorstellbar! Ich weiß, dass wir den Menschen, die in Aichelberg, Gruibingen, Mühlhausen und Wiesensteig an der Neubaustrecke leben, einiges zumuten, zumal die Belastung durch die A 8 heute schon hoch ist. Aber diese Lösung ist erträglicher und ich bin den Gemeinden für die große Sachlichkeit, mit der sie die Planungen begleiten, sehr dankbar.

Warum sind Sie gegen einen vorläufigen Baustopp, warum gegen einen Volksentscheid?
RAZAVI: Es gibt für beides keine Möglichkeit und keinen Grund! Die Parlamente haben eine demokratische Entscheidung getroffen. Die Bahn hat eine rechtmäßige Baugenehmigung, die Verträge sind verbindlich. Ein Baustopp würde das Aus für S 21 bedeuten und wir hätten zirka 1,4 Milliarden Euro wegen Vertragsbruch zu zahlen. Die Idee, die Entscheidung im Nachgang durch einen Volksentscheid nochmals überprüfen zu lassen, ist völlig abstrus und stellt unsere repräsentative Demokratie als solche infrage. K 21 und alle anderen Varianten müssten dann ja im Übrigen ebenso in einem Volksentscheid entschieden werden – mit ebenso offenem Ausgang! Klar ist: Kein Gemeinderat eines Dorfes könnte mehr einen neuen Spielplatz beschließen, wenn auch nur zehn Anwohner dagegen wären. Keine Entscheidung wäre mehr verlässlich.

Wie soll es weitergehen?
RAZAVI: Stuttgart 21 wird auf alle Fälle gebaut! Ich bezweifle sehr, dass es eine Mehrheit gegen S 21 gibt. Da muss man schon die Zahl der Demonstranten in Relation zur Gesamtbevölkerung sehen. Außerdem gibt es viele Demotouristen, die mit ominösen Gutscheinen hergelockt werden. Unterhalb der Schwelle eines Baustopps gäbe es sicherlich Möglichkeiten, etwa bei der Stadtplanung, den Anliegen der Kritiker entgegenzukommen. Leider haben die aber die Tür zugeschlagen. Andererseits muss man die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen. Die vielen Gespräche lohnen sich, weil man Fragen beantworten und über Falsches aufklären kann. Die Vorteile des Bahnprojekts sind für jeden offensichtlich der bereit ist, genau hinzusehen und sich nicht von Angstmacherei beeindrucken lässt.

zum Gespräch mit Bernhard Lehle im Rahmen dieser Reihe (Langfassung)…

zum Gespräch mit Jörg Matthias Fritz im Rahmen dieser Reihe…

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Die Beliebigkeit des Chamäleons

Zum Interview mit Stuttgart-21-Gegner Bernhard Lehle

Autor: Erwin Bühler, Geislingen | GZ 02.10.2010

Herr Lehle hat wieder einmal mit seiner Stammtisch-Rhetorik nur heiße Luft erzeugt, aber nichts Konstruktives gesagt. Er bewegt sich zwischen Münchhausen und grenzenloser Beliebigkeit als Chamäleon, das innerhalb von Sekunden jede Farbe annimmt. Aus einem ökologisch völlig untragbaren Bahnhof wird ein Öko-Park und aus einer 160 Jahre alten Streckenführung ein Zukunftsprojekt durchs Filstal. Aus einer ökologisch einmalig geplanten Neubaustrecke wird ein Feindbild. Er erzeugt den Eindruck, als ob der ganze Schlosspark abgeholzt werden müsste.

Dabei gibt es eine machbare Alternative zu Stuttgart 21, die darüber hinaus auch noch für zirka drei Milliarden Euro weniger zu haben ist: die Südumfahrung von Stuttgart mit einem neuen Hauptbahnhof am Flughafen. So preiswert will das aber Herr Lehle nun auch wieder nicht, weil man dabei auf den City-Bahnhof im Fernverkehr komplett verzichten könnte. Dann würde im Kessel die Stimmung umschlagen und das käme doch vor der Wahl sehr ungelegen.

Ein Politiker, der die Zukunftsplanung des Landes durch die Pflege von Nostalgien und Emotionen ersetzt, wird zum Hütchenspieler und damit eine Belastung für den Technologiestandort BW. Wer zu spät kommt, hat in Zukunft keine Arbeit mehr. Solange Herr Lehle nicht deutlich erklärt, wie er diese Zukunftsaufgabe in der Realität bewältigen will, muss man ihn vom Landtag fernhalten, denn pure Schwätzer gibt es da schon jetzt zu viele. Die Nostalgie wird vergehen und die Not einkehren und Herr Lehle eine andere Farbe annehmen.

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