07.10.10 Stuttgart 21 (Fritz)

„Dreist und unsäglich“ (Interview)

INTERVIEW JÖRG MATTHIAS FRITZ
Grünen-Politiker: „Regierung hat jegliche moralische Legitimation verwirkt“

Interviewer: HELGE THIELE | NWZ 07.10.2010

Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 scheinen sich unversöhnlich gegenüber zu stehen. Jörg Matthias Fritz, Landtagskandidat der Grünen in Göppingen, übt scharfe Kritik an der Landesregierung.





Herr Fritz, wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung und die Ausschreitungen am vergangenen Donnerstag in Stuttgart?
JÖRG MATTHIAS FRITZ: Es ist erschütternd, die Bilder von Verletzten während und nach dem Polizeieinsatz am Schlosspark letzten Donnerstag zu sehen. Ich wünsche allen, die ambulant oder stationär behandelt werden mussten, baldige Genesung und hoffe, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen.

Die Demonstranten machen die Polizei beziehungsweise die Landesregierung für die Eskalation verantwortlich. Die Polizei übt dagegen deutliche Kritik am Verhalten vieler Demonstranten . . .
FRITZ: Die politische Verantwortung für das unverhältnismäßige Vorgehen trägt eindeutig die Landesregierung. Wer Kinder und Jugendliche mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken malträtiert, wer in Kauf nimmt, dass Menschen ihr Augenlicht verlieren, hat jegliche moralische Legitimation verwirkt, dieses Land zu regieren. Die Dreistigkeit der Landesregierung zeigt sich auch in dem unsäglichen Versuch, friedliche Bürger zu kriminalisieren, die nichts weiter als ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen.

Wie bewerten Sie den Vorschlag von Ministerpräsident Stefan Mappus in seiner Regierungserklärung am Mittwoch, Heiner Geißler als Vermittler in dem Konflikt zu berufen?
FRITZ: Der Vorschlag, Heiner Geißler als Vermittler zu berufen, stammt ja ursprünglich vom Grünen-Landtagsabgeordneten und Sprecher der Initiative gegen Stuttgart 21, Werner Wölfle. Ich bin froh, dass der Ministerpräsident diesem Vorschlag gefolgt ist. Herr Geißler ist zweifelsohne ein erfahrener Schlichter. Ob dies aber zu einer Befriedung des Konflikts führt, hängt entscheidend vom weiteren Vorgehen der Landesregierung und der Bahn ab. Wenn nach wie vor weiter Fakten geschaffen werden, zum Beispiel durch Vergabe von Bauvorhaben an private Firmen, um die Kosten für einen Ausstieg ins Astronomische zu treiben, sehe ich kaum Chancen für sinnvolle Gespräche. Ergebnisoffen kann ja nur heißen, dass alles – auch der Ausstieg aus dem Projekt – möglich sein muss.

Manch ein Befürworter des Infrastrukturprojekts und Sympathisant der Grünen wundert sich: Einst hat Ihre Partei die Planungen für Stuttgart 21 begeistert mit auf den Weg gebracht. Warum jetzt der Schwenk?
FRITZ: Es ist nicht so, dass die Grünen von einem Tag auf den anderen auf den Protest-Zug aufgesprungen sind. Aber es zeigt sich doch mehr und mehr, dass die Kosten in keinem Verhältnis mehr zum erwarteten Nutzen stehen. 1994 waren für Stuttgart 21 2,5 Milliarden Euro veranschlagt worden, 2009 waren es 3,1 Milliarden, der Bundesrechnungshof prognostiziert 5,3 Milliarden. Und das neueste Gutachten des Büros Vieregg-Rößler, das wir in Auftrag gegeben haben, geht inzwischen von 6,3 Milliarden Euro aus. Die Frage lautet doch: Ist das Projekt sinnvoll und ist es finanzierbar? Beides bestreite ich. Bei einer derartigen Kostensteigerung würde im übrigen jeder private Häuslesbauer die Reißleine ziehen.

Was wollen die Grünen jetzt tun?
FRITZ: Wir fordern, die aktuellen Bedingungen für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke zu prüfen. Selbst die Wirtschaftsprüfer der Bahn sind doch skeptisch, was das Projekt angeht. Das geht aus einem Gutachten hervor, das dem Aufsichtsrat der Bahn vorgelegt wurde. Was uns und viele Menschen stört: Die Papiere werden geheim gehalten.

Warum halten die Grünen neben dem Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs jetzt auch die geplante Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm nicht mehr für sinnvoll?
FRITZ: Die Steigung der geplanten Strecke ist größer als die der heutigen Geislinger Steige. Die neue Trasse ist damit für die meisten Güterzüge gar nicht geeignet. Es kann also auch auf der bestehenden Filstalstrecke keine Entlastung vom Güterbahnhof geben. Und der Stuttgarter Kopfbahnhof ist einer der leistungsfähigsten Bahnhöfe in Europa. Alle großen europäischen Metropolen haben Kopfbahnhöfe. Die Idee zu Stuttgart 21 wurde in den 80er Jahren geboren, als man in Stuttgart noch die Lokomotiven wechseln musste. Das ist heute nicht mehr der Fall. Inzwischen gibt es auch Gutachten, die klar auf die geologischen Risiken des Projekts hinweisen. Auch das Argument mit dem Konjunkturprogramm sticht nicht, denn auch die von uns geforderte Ertüchtigung des Kopfbahnhofs wäre ein Konjunkturprogramm. Allerdings eines, das man Schritt für Schritt umsetzen könnte.

Und die geplante Anbindung von Flughafen und Neuer Messe an den europäischen Fernverkehr halten die Grünen auch für unnötig?
FRITZ: Der Flughafen ist durch die S-Bahn hervorragend an das bestehende Verkehrsnetz angebunden. Nochmal: Wenn die Bahn selbst sagt, 4,5 Milliarden Euro sind die oberste Grenze für die Wirtschaftlichkeit des Projekts, warum müssen wir da mit dem Kopf durch die Wand? Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass ein Projekt weder sinnvoll noch finanzierbar ist, muss man es stoppen. Ich bin auch zuversichtlich, dass uns das gelingt.

Zur Person

Jörg Matthias Fritz ist 50 Jahre alt und vor wenigen Tagen noch einmal Vater geworden. Der Dozent für Deutsch als Fremdsprache ist verheiratet und wohnt in Göppingen. In der Hohenstaufenstadt ist Fritz Ortsvorsitzender der Grünen. Der Kommunalpolitiker, der vor drei Jahren von Nürtingen ins Filstal gezogen war, ist außerdem Landtagskandidat der Grünen im Wahlkreis Göppingen.


zum Gespräch mit Bernhard Lehle im Rahmen dieser Reihe (Langfassung)…

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