16 Verkehr (Breymaier)

„Brücken schlagen und keine Bäume“ (Interview)

INTERVIEW ZU STUTTGART 21 MIT LENI BREYMAIER
Verdi-Landeschefin und SPD-Landesvize aus Eislingen ist gegen S 21 und für die Schnellbahn

Interviewer: RODERICH SCHMAUZ | GZ 16.10.2010

Leni Breymaier (50) aus Eislingen macht aus ihrer Skepsis gegen Stuttgart 21 kein Hehl. GZ-Redakteur Roderich Schmauz befragte die Verdi-Landeschefin und stellvertretende SPD-Landesvorsitzende.





Sie haben sich unlängst als Stuttgart 21-Gegnerin geoutet. Warum so spät?
LENI BREYMAIER: Ich fordere einen Baustopp und ein Moratorium. Übrigens nicht erst seit jetzt, sondern bereits seit Dezember letzten Jahres.

Das gesamte Projekt muss neu bewertet werden, dazu müssen alle Fakten, Kosten, Gutachten, Risiken und Vorteile auf den Tisch. Natürlich muss in diesem Prozess auch der mittlerweile hunderttausendfache Protest der Bevölkerung eine Rolle spielen. Eine zehn- bis zwanzigjährige Baustelle kann unter den jetzigen Bedingungen ja gar nicht realisiert werden.

Welche Gründe sind für Sie maßgeblich, dass Sie Stuttgart 21 ablehnen?
BREYMAIER: Ich lehne Stuttgart 21 nicht ab. Ich fordere Aufklärung, Information, Dialog und Beteiligung ein. Zum Beispiel auch bei der Kostenkalkulation. Mehrkosten, wie sie im Land kursieren, liefen voll gegen die Schuldenbremse und dann gegen notwendige Sozialausgaben, Bildung, Gesundheit und so weiter.

Sie fallen Ihrer eigenen Partei in den Rücken.
BREYMAIER: Die SPD im Land hat im Gegensatz zur Landesregierung erkannt, dass Stuttgart 21 nur gemeinsam mit der Bevölkerung zu einer sinnvollen Lösung geführt werden kann. Ich unterstütze deshalb die Forderung meiner Partei nach einem Bau- und Vergabestopp und einem Volksentscheid.

Gilt Ihre Ablehnung oder Skepsis auch für die Schnellbahntrasse?
BREYMAIER: Die Koppelung der Schnellbahntrasse an das Projekt Stuttgart 21 halte ich für einen Fehler. Beide Projekte gehören unabhängig voneinander bewertet. Sollte Stuttgart 21 nicht kommen, darf das nicht automatisch das Aus für die Neubahnstrecke sein. Als Filstälerin bin ich für die Schnellbahntrasse wegen der möglichen Verbesserung des Nahverkehrsangebots für uns. Konkretes weiß man ja hier auch noch nicht. Ich glaube, die Schnellbahntrasse bringt mehr Verkehr auf die Schiene. Ich bin seit Jahren nicht mehr mit dem Auto nach Mannheim gefahren; hier ist die Schnellbahnstrecke unschlagbar.

Es wurde viele Jahre über Stuttgart 21 diskutiert und schließlich entschieden. Gehört es nicht zur Demokratie dazu, solche Entscheidungen dann zu akzeptieren?
BREYMAIER: Die repräsentative Demokratie funktioniert nur so lange, wie die Politik in den für die Menschen wesentlichen Fragen die Mehrheiten repräsentiert. Spätestens als 67 000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren vorgelegt wurden, hätte die Politik innehalten müssen. Zur Demokratie gehört es auch, Entscheidungen neu zu bewerten und auch revidieren zu können, wenn sich Entscheidungsgrundlagen geändert haben. Denken wir nur an die Kosten. Bei der Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke ist ein Ausstieg aus von Parlamenten beschlossenen Gesetzen und bestehenden Verträgen ja auch möglich, übrigens gegen die Mehrheit der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen.

Der Protest von Zigtausend Demonstranten in Stuttgart offenbart einen schwerwiegenden Vertrauensverlust der Bevölkerung zu ihren gewählten Repräsentanten. Was ist da schiefgelaufen?
BREYMAIER: Umfragen zeigen, dass in Stuttgart seit Jahren zwei Drittel der Bevölkerung gegen Stuttgart 21 sind. Die Verantwortlichen in der Stadt, allen voran Oberbürgermeister Schuster, haben geglaubt, sie könnten dies ignorieren. Im Gegenteil: Im OB-Wahlkampf 2004 hat Herr Schuster selbst den Gegnern einen Bürgerentscheid in Aussicht gestellt. Später hat er während der laufenden Unterschriftensammlung weiter Fakten geschaffen. Die Landesregierung zeigt sich seit Monaten ähnlich kompromisslos und uneinsichtig. Arroganz, Ignoranz und keinerlei Begeisterungsfähigkeit, das sind wohl die wichtigsten Stichworte.

Der Protest zeigt, unsere Demokratie ist lebendig, kraftvoll und kreativ. Mich freut das.

Wie beurteilen Sie den umstrittenen Polizeieinsatz mit Wasserwerfern und Pfefferspray?
BREYMAIER: Bis zum 30. September hat die Stuttgarter Polizei von allen Seiten Lob für ihre Strategie der Deeskalation bekommen. Es ist doch offenkundig, dass am Tag der Räumung des Schlossgartens eine gänzlich andere Strategie gefahren wurde: In der ersten möglichen Stunde, koste es was es wolle, werden die Bäume gefällt. Dieser Einsatz ist durch nichts zu rechtfertigen. An diesem Donnerstag haben viele Menschen das letzte Vertrauen zu den bedingungslosen Projektbefürwortern, zu Herrn Mappus, Herrn Rech und Herrn Grube, verloren. Ich kann das gut verstehen. Ich war an dem Tag in Berlin und nicht in Stuttgart. Inzwischen konnte ich mit vielen Leuten sprechen, die den Polizeieinsatz erlebt haben. Ich bin entsetzt über die Härte. In Stuttgart müssen Brücken geschlagen werden, keine Bäume.

Glauben Sie, dass bei den Fronten und feststehenden Positionen eine Schlichtung überhaupt Erfolg haben kann?
BREYMAIER: Als Gewerkschafterin habe ich schon viele anfangs als aussichtslos bewertete Schlichtungen begleitet. Allerdings gibt es bei Stuttgart 21 offenkundig keine Position der Mitte, das macht die Situation ja so schwierig, aber nicht hoffnungslos. Wenn jedoch Herr Mappus und Herr Grube bereits vor Schlichtungsbeginn keinerlei Bereitschaft erkennen lassen, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, sehe ich wenig Spielraum für Herrn Geißler. Ich bin gespannt.

Sie unterstützen also die Forderung ihrer Partei nach einem Volksentscheid?
BREYMAIER: Freilich. Ich habe den Weg im SPD-Präsidium nicht nur mitgetragen, sondern sehr begrüßt. Der Volksentscheid ist eine gangbare und rechtlich mögliche Form der Bürgerbeteiligung. Mit Bauen aufhören, Fakten und Zahlen auf den Tisch, Bürgerinnen und Bürger befragen. Votum respektieren. Die Welt geht nicht unter, wenn Stuttgart 21 gebaut wird. Aber sie geht auch nicht unter, wenn nicht gebaut wird.

zum Gespräch mit Bernhard Lehle im Rahmen dieser Reihe (Langfassung)…

zum Gespräch mit Jörg-Matthias Fritz im Rahmen dieser Reihe…

zurück zur Presseübersicht Oktober 2010…