18 Mühlhausen/Kreis: Göppinger gegen S21

Im Täle 21

Oben die Autobahn, unten der Protest gegen die Bahn: Auch in Mühlhausen im Täle leben Gegner des geplanten Großprojektes. Hier auf der Schwäbischen Alb soll die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm entlanglaufen. Foto: Bernhard Weizenegger

Autor: DANIEL WIRSCHING | Aufsburger Allgemeine Zeitung 18.10.2010

Bahn. Wer an Protest denkt, denkt an Stuttgart. Dort prallen die Interessen aufeinander, dort soll geschlichtet werden. Dabei formiert sich überall im Ländle der Widerstand – auch gegen die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm. Ein Ortstermin

Mühlhausen im Täle Ein rot angemalter Holzstab zwischen Landstraße und Autobahn verbindet Zehntausende Demonstranten miteinander. Aber nur eine Handvoll von ihnen kennt den Ort, an dem der Holzstab in der Erde steckt. Ein einfacher Holzstab im hohen Gras.

Die Zehntausenden protestieren in Stuttgart gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm. Überall im Ländle protestieren sie. Hier im Täle, in Mühlhausen im Täle, Kreis Göppingen: nicht. Noch nicht. Denn was passiert, wenn sich in ein paar Jahren Bohrmaschinen durch die Schwäbische Alb fräsen und Schneisen in die Wälder geschlagen werden, wenn auf einer Fläche von 1500 Quadratmetern Buchen gefällt werden und nicht einzelne Bäume wie im Stuttgarter Schlossgarten, was dann passiert, weiß niemand.

Bürgermeister Bernd Schaefer („parteilos, aber nicht farblos“) sagt: „Die Demonstranten, die jetzt vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof stehen, stehen dann vielleicht bei uns. Aber es gibt hier auch so genug Potenzial für Widerstand.“
Während Deutschland auf Stuttgart blickt, weil am Beispiel von Stuttgart 21 das Verhältnis der Deutschen zur Demokratie verhandelt wird, gründet sich in Baden- Württemberg, überregional unbemerkt, eine Initiative nach der anderen. Im Kreis Göppingen: Göppinger- gegen-S 21 (Anfang September) und Wir sind für Stuttgart 21 (Ende September); in Ulm: Aktionsbündnis K 21 – gut für Ulm und Zukunft Region Ulm (Mitte September).

S-21-Gegner Werner Korn hat das Ulmer Aktionsbündnis mit ins Leben gerufen. Er glaubt: „Die angeblich so überparteilichen Gegen- Bündnisse werden von der schwarzgelben Landesregierung gesteuert.“ Korn vermutet dahinter eine groß angelegte Kampagne, die den Eindruck erwecken soll, dass die S-21-Befürworter in der Mehrheit sind. Bisher waren sie zumindest nicht so laut wie die Gegner. An jedem Tag der Woche tröten irgendwo Bürger gegen das Projekt an. In Aalen, in Freiburg, in Heilbronn, in Göppingen. Schwabenstreiche wie in der Landeshauptstadt. Der Protest ist ein Exportschlager, „made in Stuttgart“. Stuttgart 21, Göppingen 21, Mühlhausen im Täle 21.

Protest und Gegenprotest haben viele Gesichter, tragen viele Namen – und der rote Holzstab verbindet sie: Annerose Fischer-Bucher (Ex- FDP-Mitglied) und Martina Heer (SPD) aus Göppingen, Walter Kißling aus Bad Boll (Grüne, alle von Göppinger-gegen-S21), Bürgermeister Bernd Schaefer, Ulrike Geierhos und Rainer Müller aus Mühlhausen, Nicole Razavi (Vorsitzende des CDU-Kreisverbandes Göppingen und verkehrspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Landtag) und Hans-Peter Kleemann, Vorsitzender des Naturschutzbundes Deutschland Stuttgart.

Noch demonstrieren sie nicht in Mühlhausen, dafür diskutieren sie. Über Chancen durch und Risiken ohne oder über Chancen ohne und Risiken durch Stuttgart 21; sie diskutieren über Streckenführungsvarianten und Steigungen und Kapazitätsgrenzen und Lärmschutz und, und, und. Der Holzstab steckt dort, wo im Filstal, zwischen Mühlhausen und der Nachbarstadt Wiesensteig, zwischen Landstraße und A 8, ein Pfeiler der zweigleisigen Filstalbrücke entstehen soll. Wie auf einer Schatzkarte markiert der Stab jenen Ort, an dem Geld verbuddelt wird, umstritten ist allein, ob der Stab auf einen Schatz für die Region oder ein Milliardengrab hinweist.

Die Bahn stellt sich das so vor: Die Filstalbrücke, 485 Meter lang, 85 Meter hoch, überspannt das Tal. ICEs aus Ulm rasen mit einer Geschwindigkeit von 251 Stundenkilometern aus dem 4847 Meter langen Steinbühltunnel, Durchfahrtszeit: 1:10 Minuten, hinaus auf die Brücke und mit einer Geschwindigkeit von 249 Stundenkilometern in den 8806 Meter langen Boßlertunnel, Durchfahrtszeit: 2:07 Minuten, hinein. In 28 Minuten erreichen sie Stuttgart Hbf. 70 Meter vom geplanten Brückenpfeiler entfernt wohnt Ulrike Geierhos. An einer Halle neben dem Haus auf dem Gelände eines ehemaligen Tuffsteinbruchs hängt das einzige Protest-Plakat weit und breit:

NEIN zu
STUTTGART 21
NEIN zur
NEUBAUSTRECKE

Des Weiteren hängen in Mühlhausen: zwei Plakate, die die „Fight Night“ in Gruibingen ankündigen. „Vollkontakt Kickbox-Kämpfe“, am 9. 10. 2010, Alte Turnhalle; und zwei Warn-Spannbänder „Tempo runter, bitte!“ zum Schulanfang.

Mitglieder des Bündnisses Göppinger- gegen-S21 haben sich am Holzstab zu einer Ortsbesichtigung getroffen. Sie reden mit erhobener Stimme, denn auf der Landstraße vor ihnen lärmen die Autos und auf der A 8 hinter ihnen quälen sich die Lastwagen die Alb hinauf in Richtung Ulm. Der grüne Duvenbeck, der gelbe Arslan, der orangefarbene Cartrans. Gerade überholt sie ein Motorrad.

Fischer-Bucher: „Mich sprechen sogar CDU-Wähler an: Toll, dass Sie endlich was unternehmen.“
Heer: „Ich bin Angestellte bei der Polizeidirektion Göppingen und für die Beschaffung von Pfefferspray zuständig.“
Kißling: „Wenn die Polizei also eine Großbestellung macht, wissen wir, dass uns was bevorsteht.“
Da lachen sie alle.
Müller: „Das Planfeststellungs-verfahren ist durch. So gesehen sind wir zu spät dran. Immerhin haben wir Anwohner durchgesetzt, dass der Baustellenverkehr nicht durch unsere Kreuzäckerstraße läuft.“
Da blicken sie alle ernst.
Geierhos: „Der Protest in Stuttgart gibt mir Hoffnung.“
Sie alle wünschen sich den sechsspurigen Ausbau der A8 auf der Alb. An das „Grundrauschen“ der Autos und Lastwagen haben sie sich gewöhnt. An die Züge über ihren Köpfen werden sie sich nicht gewöhnen, sagen sie.

Im Kreis Göppingen ist die Protestbewegung erst am Anfang. Den einen geht es um das große Ganze, Bürgermeister Bernd Schaefer um Mühlhausen: „Ich will nicht diskutieren: Bahnhof hoch oder tief, Strecke: links oder rechts. Ich will die Details geklärt haben“, sagt er. Eines sieht so aus: Die Gemeinde muss den Katastrophenschutz in den Bahn-Tunnels gewährleisten, hat jedoch nur ein 31 Jahre altes Magirus-Löschfahrzeug. Er fürchtet, auf den Kosten für ein neues sitzen zu bleiben. „Der Demonstrant in Stuttgart beschäftigt sich nicht mit meinen Problemen“, sagt Schaefer.

Um 19.30 Uhr treffen sich Annerose Fischer-Bucher, Martina Heer, Walter Kißling und Ulrike Geierhos im Schulerzimmer der Göppinger Stadthalle wieder. Hans-Peter Kleemann vom Naturschutzbund aus Stuttgart trägt vor. Thema: Welche Auswirkungen hat Stuttgart 21 auf den Landkreis Göppingen? 24 Interessierte sind an diesem Montag gekommen, drei machen sich Notizen.

Kleemann ist ein weißhaariger Diplom-Bauingenieur. In der Mitte seines 40-minütigen Vortrags sagt er: „Wenn die Neubaustrecke gebaut wird, haben Sie keine Vorteile“; und am Ende: „Jetzt können wir munter diskutieren.“ 13 der Zuhörer stellen ihm Fragen. Zur Verabschiedung, nach vereinzelten „Bravo“-Rufen, sagt Kleemann: „Ich komme gern mal wieder.“ Er beschließt den Abend mit Kißling und den anderen vom Bündnis in der Pizzeria „Wilder Mann“.

Nicole Razavi ist gern in ihrem Wahlkreis, weil dort sachlich diskutiert wird, sagt sie. Im Gegensatz zu Stuttgart. Es ist Donnerstag, der Tag, bevor Heiner Geißler zwischen S-21-Befürwortern und -Gegnern zu vermitteln versucht. MdL Nicole Razavi nippt im Plenum, dem Landtags- Café mitten im Schlossgarten, an einer Latte macchiato. 300 Meter weiter wärmen sich S-21-Gegner unter einem Baum, der vom seltenen Juchtenkäfer behaust wird, an Flammen, die in einer Tonne lodern. Im Filstal fand sich kein Juchtenkäfer, der das Projekt verzögern kann. Im Himmel über der Fils flattern Eisvögel, Fledermäuse und Uhus; durchs Tal, ein Landschafts- und Wasserschutzgebiet, schlängeln sich Kreuzottern. Die Gasthöfe heißen „Falken“ und „Hirsch“.

Nicole Razavi muss an den Montag denken. Als Herr Kleemann aus Stuttgart in Göppingen referierte, sprach Bahn-Chef Rüdiger Grube in der Stuttgarter Liederhalle vor 750 geladenen Gästen. Grube lehnte jegliches Zugeständnis an die S-21- Gegner ab, und für einen Moment schien es, als ob Geißlers Vermittlungsversuch gescheitert ist, ehe er begonnen hat, Schlichtung schlicht unmöglich. Als Razavi die Liederhalle verließ, brüllte sie ein Mann an. Die Flasche in seiner Hand zerschmetterte er zwar nicht auf ihrem Kopf, aber er spuckte vor ihre Füße. Sie hatte Angst. Es ist die schwerste Zeit in ihrer politischen Karriere. Sie sorgt sich um die Grundsätze der Demokratie und sagt: „Ein Volksentscheid, wie ihn Grüne und SPD fordern, ist für mich in weite Ferne gerückt.“

Razavi gehört zu den zwölf Erstunterzeichnern der überparteilichen Initiative Wir sind für Stuttgart 21, deren Resolution in einen Beschlussantrag des Kreistages eingebracht wurde. Am 22. Oktober stimmen die Abgeordneten ab, ob der Kreistag „sich gegen jegliche erneute Trassendiskussion im Filstal“ wendet. Mit Razavi ist Ministerpräsident Stefan Mappus, neben Grube das Feindbild der S-21-Gegner schlechthin, in Göppingen und Mühlhausen präsent. Sie hat vor fünf Jahren, er war Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion, sein Büro geleitet. Sie kennen sich sehr gut. Sie bewundert ihn, wie er dem Druck standhält: „Ich habe nie erlebt, dass er den Anschein macht, nicht mehr zu wollen oder zu können.“ Argumente für die Neubaustrecke zählt sie routiniert auf. Ist es mutig, Wendlingen–Ulm zu verteidigen? Sie überlegt lange. „Es ist viel einfacher, gegen etwas zu sein als für etwas.“ Der Satz verhallt im Plenum.

Das plant die Deutsche Bahn

  • Schienen Im Rahmen des Bauprojekts der Deutschen Bahn (Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs, Anschluss des Bahnhofs ans Messegelände und den Flughafen) entstehen 117 Kilometer neue Strecke, 60 Kilometer davon zwischen Wendlingen und Ulm.
  • Tunnel Die Gesamtlänge der 26 Tunnel beträgt 63 Kilometer, allein 30 Kilometer auf der Neubaustrecke.
  • Brücken 55 Brücken, davon 37 auf der Neubaustrecke.
  • Kosten Bislang sieben Milliarden Euro, davon der Bahn zufolge 2,9 Milliarden für die Neubaustrecke. (AZ)

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