26 Verkehr: S-Bahn und Neubaustrecke

Stuttgart 21 bringt der S-Bahn neue Freunde

Autor: EBERHARD WEIN | StZ 26.10.2010

Geislingen. Um für das Milliardenprojekt die Werbetrommel zu rühren, springt Rathauschef Amann über seinen Schatten.

Das Argument schmerzt. Seit Jahren schon kämpfen die Grünen für eine Einbeziehung des Kreises Göppingen in das Stuttgarter S-Bahn-Netz. Und jetzt müssen sie sich von den Befürwortern von Stuttgart 21 vorhalten lassen, dass sie durch ihr Nein zur Schnellbahntrasse zwischen Wendlingen und Ulm die Verlängerung der S-Bahn nach Göppingen und Geislingen gefährden. Solange der ICE durch das Filstal fahre, so sagen die Befürworter des Milliardenprojekts, fehle es an Kapazitäten für einen Ausbau des Nahverkehrs.

Auch die kreisweite überparteiliche Initiative Für Stuttgart 21 nennt in ihrer Resolution die S-Bahn als eines ihrer wichtigsten Argumente. Nur der Bau der Schnellbahntrasse schaffe „die Voraussetzungen für eine weitere Verbesserung des Regional- und Nahverkehrs und damit auch für eine S-Bahn in den Landkreis Göppingen", heißt es in dem Papier, das mittlerweile auch von einer großen Mehrheit des Kreistags (wir berichteten) und zahlreichen Gemeinderäten gebilligt wurde. Bei den Grünen löst dieser Satz allerdings Verwunderung aus. „Es ist schon interessant, dass alle plötzlich für die S-Bahn sind", sagt der Grünen-Kreischef, Walter Kissling.

Denn in den vergangenen Jahren sei das Projekt immer wieder verzögert worden. Und nun seien auch erklärte Gegner eines S-Bahn-Anschlusses unter den Erstunterzeichnern der Resolution. So unterstützt neben dem Landrat, den örtlichen Landtags- und Bundestagsabgeordneten, dem Präsident der Industrie- und Handelskammer, dem Obermeister der Kreishandwerkerschaft und dem Oberbürgermeister von Göppingen auch der Geislinger OB Wolfgang Amann die Erklärung.

Der parteilose Rathauschef hatte aus seiner Ablehnung der S-Bahn bisher keinen Hehl gemacht. Schließlich brauche sie nach den bisherigen Berechnungen wegen der vielen Halte unterwegs für die 60 Kilometer lange Strecke von Geislingen nach Stuttgart rund 80 Minuten. Dies sei nichts für Eilige und auch nichts für Menschen mit schwachen Blasen. Schließlich fehlen in der S-Bahn bekanntlich die Toiletten. Zudem sei für seine Mitbürger eine gute Verbindung nach Ulm genauso wichtig: „Für uns gibt es nicht nur Stuttgart."

Von seiner Meinung, dass die Einführung der S-Bahn für seine Stadt unsinnig sei, rücke er nicht ab, sagt der OB. „Mir wäre es lieber gewesen, wenn das Thema Nahverkehr grundsätzlicher in der Resolution gestanden wäre." Doch dabei machten nach Informationen der StZ andere Erstunterzeichner nicht mit. So sollen insbesondere der Landrat Edgar Wolff, der IHK-Präsident Wolf Martin und der SPD-Landtagsabgeordnete Peter Hofelich gedroht haben, ihre Unterschrift zu verweigern. Bestätigen wollten sie dies allerdings nicht. Richtig sei, dass im Vorfeld um einzelne Formulierungen gerungen worden sei, sagte Wolff. Dies sei aber normal, wenn mehrere Parteien an einem Tisch säßen. Er sehe jedoch ein wichtiges Argument für Stuttgart 21 darin, dass mit der Neubaustrecke die Realisierung einer S-Bahn im Kreis möglich werde. „Mir war wichtig, dass sie drinsteht", sagte auch der IHK-Chef Martin. „Sonst wäre es sinnlos gewesen."

Für die Skeptiker war am Ende ein breites Bekenntnis für Stuttgart 21 offenbar wichtiger als die S-Bahn. „Es ist bisher einzigartig in Baden-Württemberg, dass in einem Landkreis eine solche überparteiliche Resolution verabschiedet wird", sagte die CDU-Landtagsabgeordnete Nicole Razavi, die sich bisher in dieser Frage nicht festlegen möchte. Unter einer S-Bahn verstehe ohnehin jeder etwas anderes, sagte sie. „Es ist klar, dass wir eine maßgeschneiderte Lösung für den Kreis Göppingen brauchen."

Auch der CDU-Fraktionschef im Kreistag, Wolfgang Rappe aus Geislingen, sieht in der Erwähnung der S-Bahn in der Resolution noch keine endgültige Festlegung. Erst müssten alle Daten und Fakten auf dem Tisch liegen. Dann könne man entscheiden, sagte er. Bis jetzt sei unbekannt, wie viel die S-Bahn den Kreis koste und ob genügend Menschen einsteigen würden. Nur mit dem Bau der Schnellbahntrasse könne man sich allerdings die Option dafür überhaupt offenhalten.

Das sehen die Grünen anders. Die Machbarkeitsstudie es Landkreises habe ergeben, dass auch ohne Neubaustrecke die Verlängerung der S-Bahn in den Kreis Göppingen hinein grundsätzlich möglich sei. Ein Halbstundentakt bis Geislingen scheint bislang aber nur möglich, wenn zwischen Plochingen und Uhingen ein drittes Gleis gebaut wird. Nach vorsichtigen Schätzungen könnte dies 70 bis 80 Millionen Euro kosten. Zudem müssten entlang der Bahnstrecke möglicherweise Häuser abgerissen werden.

Um nicht als Verhinderer einer S-Bahn dazustehen, sind die Grünen mittlerweile aktiv geworden. „Wir stehen in engem Kontakt mit unserer Landespartei", sagte der Kreischef Kissling. Dort hat man die Brisanz des Themas offenbar erkannt. Die Landtagsfraktion hat mittlerweile ein Gutachten in Auftrag gegeben, dass die Realisierungschancen einer S-Bahn ohne Neubaustrecke untersuchen soll.

DIE VORGESCHICHTE

Impuls. Der Wunsch nach der S-Bahn ist alt. Doch sie galt jahrelang wegen der starken Belegung der Gleise im Filstal als chancenlos. Zudem hielt der frühere Landrat Franz Weber wenig von dem Projekt, für das sich vor allem SPD und Grüne starkmachten. Erst ein Vorstoß der Industrie- und Handelskammer (IHK) im Jahr 2006 brachte neuen Schwung in die Debatte.

Studie. Ein Halbstundentakt ins Filstal ist möglich. Das war das Ergebnis einer Machbarkeitsstudie, die im Sommer 2009 vorgestellt wurde. Dies gelte, sobald die Neubaustrecke nach Ulm eröffnet werde. Ansonsten müsse ein drittes Gleis zwischen Plochingen und Uhingen gebaut werden.

Rückzieher. Schon kurz darauf wurde die Studie wieder einkassiert. Endgültige Aussagen könnten erst getroffen werden, wenn die Bahn ihre Angebotskonzeption für die Jahre nach 2020 erstellt habe. Dies sollte im Herbst 2010 der Fall sein. Doch auch dieser Termin wurde nicht gehalten.

Zusage. Bei einer kurzfristigen Besprechung im September 2010 erhielt der Landrat die Zusage, dass nach dem Bau der Neubaustrecke zwei S-Bahnen pro Stunde nach Geislingen fahren könnten, allerdings nicht alle 30 Minuten, sondern in einem Stolpertakt. Besser sei eine Kombilösung, bei der sich eine S-Bahn mit einer Regionalbahn abwechselt, die nur im Kreis Göppingen überall hält.

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