23 Boris Palmer zu Elektrofahrrädern

Rückenwind vom grünen OB

Boris Palmer macht Fahrradbranche in Bad Boll Mut: Elektrorad hat Zukunft

Autor: JÜRGEN SCHÄFER | NWZ 23.11.2010

Rückenwind vom Tübinger OB Boris Palmer bekamen 160 Fahrradhändler und -hersteller bei ihrer Verbandstagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Palmer räumt dem Elektrofahrrad große Chancen ein.

Bad Boll. Boris Palmer kam mit einer Stunde Verspätung. Grund: Er hatte den Zug verpasst. Das Auto nimmt er nur in Ausnahmefällen, und dann auch nur einen Wagen vom Tübinger Autoteiler-Verein, nachdem er diverse Dienstfahrzeuge aus dem Ländle als zu wenig ökologisch ausgemustert hat. Solche Autoteiler-Kleinwagen, neuerdings am Tübinger Bahnhof stationiert, steuert er dann mit dem Elektrofahrrad an, das für ihn das bevorzugte Dienstfahrzeug geworden ist. „Es spart 99 Prozent CO2 und kostet 20 Cent auf 100 Kilometer“, schwärmte er und sprach damit den Fahrradhändlern aus ganz Deutschland aus dem Herzen.

Die haben Palmer aber nicht nur wegen seiner Dienstrad-Wahl eingeladen, sondern wegen seiner Vorreiter-Rolle für eine ökologische Stadtpolitik. Palmer will die Tübinger mit seiner Kampagne „Tübingen macht blau“ zu einer spürbaren Reduzierung von CO2 anspornen und hat zur bundesweiten Beachtung auch ein Buch geschrieben, „das in anderen Städten heimlich gelesen wird“, wie er humorvoll anmerkte. Das Ziel heißt zehn Prozent weniger CO2, und das sei eigentlich nicht schwer zu erreichen, so Palmer, weil drei Viertel des CO2 im Umfeld der Menschen verbraucht würden. Dem Fahrrad oder Elektrorad komme dabei eine wichtige Bedeutung zu. Tübingen habe jetzt schon einen Fahrradanteil von 25 Prozent am Gesamtverkehr, was sich bei der hügeligen Topografie „gut sehen lassen kann“.

Palmer empfiehlt das Elektrofahrrad als Alternative zum Auto im Nahverkehr. Mit seinem Dienst-Pedelec der S-Klasse, das 45 Stundenkilometer hergibt, sei er schnell und bequem unterwegs, ohne Schwitzflecken bei der Fahrt bergauf, wenn er zu Terminen fahre. Damit habe er schon den Uni-Rektor mit dem Auto geschlagen, was der Uni-Rektor auf die Ampelschaltung zurückgeführt habe. Palmer sieht im Elektrorad noch ein ganz anderes Potenzial: Hier liege der eigentliche Nutzen der vielbeschworenen E-Mobilität, mit der die Automobilbranche und das Ländle punkten wolle – der Großraum Stuttgart will sich damit als Modellregion profilieren – und nicht im Elektroauto. Die Branche selbst sehe dafür in absehbarer Zeit nur einen geringen Marktanteil. Das herkömmliche Fahrrad bleibe natürlich auch eine Alternative.

Wer trotzdem ein Auto brauche, so Palmer, solle umsteigen auf das Autoteilen (Car-Sharing), das in Tübingen durch die Kampagne einen großen Aufschwung erlebe: „Wir haben die Zahl der Autoteiler fast verdoppelt.“ Der Effekt dabei: Diese Kleinwagen produzierten wenig CO2, das vermindere den Ausstoß gleich mal um 50 bis 70 Prozent gegenüber einem Mittelklassewagen oder einem Van, mit dem ein Familienvater oft nur allein unterwegs sei.

Der Tübinger OB bringt diese Ratschläge auch gezielt ins Autofahrer-Volk: Wer falsch geparkt hat, bekommt mit dem Strafzettel einen Hinweis, dass er auch ohne Auto ins Städtle gelangen kann. Das habe ihm erboste Mails eingetragen, sagt Palmer genüsslich. Aber vielleicht resultiere daraus ein Nachdenken. Ein gutes Radwegenetz brauche man natürlich auch, sagt Palmer. In Tübingen habe es noch viele Lücken, die man ausbügeln wolle. Eine weitere Schwachstelle: Abschließbare Fahrradboxen für den spontanen Nutzer habe man noch nicht.

Als „Mutmacher“ würdigte der Verbandschef Albert Herresthal aus Aurich (Ostfriesland) den Tübinger OB. Der habe eine super Kampagne gestartet, „das hat Strahlkraft“. Der Verband sieht sich sonst von der Politik nicht gerade verwöhnt. Zwar habe sich der Fahrradanteil am Verkehr bundesweit leicht erhöht, von neun auf zehn Prozent. Aber das ist noch weit weg von den 25 Prozent in Tübingen.

Die Fahrradhändler und -tüftler verstehen sich selbst auch als umweltbewusst; Vorstand Herresthal fordert ganzheitliches Handeln für den Klimaschutz. Viele Tagungsteilnehmer kamen mit der Bahn, der Zeller Mitorganisator Eberhard Binder hat sie mit einem „Shuttle“ vom Göppinger Bahnhof abgeholt.

Boris Palmer musste auch vom Bahnhof abgeholt werden. Auf dem Hinweg kam er nur bis Wendlingen mit der Bahn, auf dem Rückweg stieg er in der Kirchheimer S-Bahn zu. Seine Anmerkung: „Einen Bahnhof in Bad Boll gibt es ja nicht mehr.“

Palmer erneuert Kritik an Stuttgart 21

Auch zu Stuttgart 21 nahm Gastredner Boris Palmer Stellung auf der Fahrrad-Tagung – auf Wunsch der Gastgeber. Er nannte die Schlichtung eine Lösung aus einer vollkommen verfahrenen Situation. Seither sei es ruhig, die Diskussion habe sich versachlicht. Sein Vorwurf: Das Bahnprojekt sei „unter Vorspiegelung falscher Tatsachen“ aufs Gleis gesetzt worden. Jetzt kämen Fakten auf den Tisch, die noch kein Parlamentarier gesehen habe und die alle gegen das Projekt sprächen. Palmer: „Ich habe Dokumente gesehen, dass die Bahn selber weiß, dass das Projekt doppelt so teuer ist als es in der Öffentlichkeit verkauft wird.“

Palmer warnt davor, dass Bürgerinitiativen aus jedem anderen Streitpunkt ein neues Stuttgart 21 machen.

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