Besorgte Blicke nach Japan
Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann spricht in Göppingen
Autorin: EVA–MARIA MANZ | NWZ 14.03.2011
Mehr als 100 Interessierte kamen am Samstagabend zu einer Veranstaltung der Grünen mit dem Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann in die Göppinger Stadthalle. Dabei ging es aus aktuellem Anlass auch um Atomenergie.
Göppingen. Im Märklinsaal der Göppinger Stadthalle sitzen bereits einige Kreisbewohner und warten auf die Rede von Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann. Manche tragen Anti-Atomkraft-Schals und Buttons, am Eingang werden Flugblätter verteilt, die die nächste Demo ankündigen. Als Jörg-Matthias Fritz, Grünen-Kandidat des Landkreises, einleitende Worte spricht, sind bereits mehr als 100 Besucher im Saal. Die Grünen, in der Vergangenheit schon oft in Erscheinung getreten mit ihrer Forderung nach Energiegewinnung aus Windkraft, sehen jetzt im Atomunfall nach dem Erdbeben in Japan ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, und Jörg-Matthias Fritz erhält schallenden Applaus, als er ins Mikrophon spricht: „Wir wollen Energie aus dem Himmel und kein Feuer aus der Hölle.“
Winfried Kretschmann geht zum Rednerpult, sein Gesichtsausdruck ist ernst: „Wir erinnern uns jetzt auch an Tschernobyl und sind sehr besorgt, wenn wir nach Japan blicken.“ Der Spitzenkandidat der Grünen ist schon den ganzen Tag mit Interview-Anfragen beschäftigt, wie er im Gespräch mit der NWZ vor seinem Auftritt erzählt (siehe untzen). Spontan haben unzählige Medien bei ihm angefragt, als sich eine Atomkatastrophe im japanischen Werk Fukushima immer deutlicher abzeichnete. Am Samstagnachmittag war Kretschmann in Stuttgart, wo sich 60 000 Menschen zu einer bereits lange geplanten Anti-Atomkraft-Demonstration eingefunden hatten. Die Medien fragen den Politiker immer wieder auch, ob der Atomunfall in Japan den Grünen im Wahlkampf jetzt nochmals Aufwind geben werde. „Unsere Gedanken sind in Anbetracht einer so schrecklichen Katastrophe bei den Menschen in Japan“, betont Kretschmann.
In der Göppinger Stadthalle fordert der Spitzenkandidat jetzt aber auch: „Wir müssen uns von dieser Technologie verabschieden.“ Den oft kritisierten Begriff des „Restrisikos“ könne man nun endgültig aus dem Wortschatz streichen.
Viel Wert legte der Grünen-Politiker in seiner Rede nicht nur auf die Kritik an der Atomkraft, sondern auch auf Themen wie die Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen, Umweltschutz und Bildung. Kretschmann betonte: „Wir wünschen uns eine repräsentative Demokratie, die ergänzt wird durch eine direkte Demokratie.“ Wenn die Grünen an die Regierung kämen, würde man sich für einen Volksentscheid zu Stuttgart 21 einsetzen, versicherte Kretschmann. Man wünsche sich neue Formate, um die Bürgergesellschaft an politischen Entscheidungen zu beteiligen: „Es darf nicht immer von oben nach unten regiert werden.“
Wütend ist der Grünen-Politiker auch über eine Wahlkampagne der CDU, in der die Grünen als „Dagegen-Partei“ tituliert würden. Kretschmann meint: „Die Kampagne ist ein bisschen dümmlich, denn wer für das eine ist, beispielsweise für einen Kopfbahnhof in Stuttgart, der muss naturgemäß gegen das andere sein, in diesem Fall ein Bahnhof unter der Erde.“ Die Kampagne habe außerdem einen gefährlichen Zwischenton, der darauf hindeute, dass es nur eine Lösung gebe und wer dagegen sei, sei ein Querulant. Kretschmann: „Nur in Diktaturen darf man wirklich nicht ’Nein’ sagen.“
Beim wichtigen Grünen-Thema Umweltschutz und Nachhaltigkeit hält Winfried Kretschmann fest: „Unser Wohlstand darf nicht darauf basieren, dass wir Raubbau an der Erde betreiben. Das ist unsere Verantwortung, und gerade in Baden-Württemberg haben wir das Know-How und die Infrastruktur dafür, neue Wege zu gehen.“
Abschließend spricht Kretschmann ausführlich über die von den Grünen im Falle der Regierungsübernahme geplanten Änderungen in der Bildungspolitik: „Uns geht es um individuelle Förderung. Wir setzen außerdem auf Ganztagesschulen. Dafür würden wir 1000 neue Lehrdeputate anschaffen.“
Zur Person
Winfried Kretschmann ist Spitzenkandidat der Grünen für die Landtagswahl in Baden-Württemberg 2011. Der Politiker wurde am 17. Mai 1948 in Spaichingen geboren und wuchs dort „in einem liberalen katholischen Elternhaus“ auf, wie es auf seiner Webseite heißt. Nach dem Studium in Hohenheim war Kretschmann kurze Zeit Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik.
1979/ 1980 war Winfried Kretschmann Mitbegründer der Grünen in Baden-Württemberg und wurde 1980 erstmals in den Landtag gewählt. Mitte der 80er war Kretschmann im ersten grünen Umweltministerium in Hessen bei Joschka Fischer. 1988 wurde Kretschmann wieder in den Landtag gewählt, ebenso 1996 und 2001. Seit 2002 ist er Fraktionsvorsitzender.
Kretschmann: „Sofort raus aus der Atomenergie“
Grünen-Spitzenkandidat fordert am Rande seines Göppingen-Besuchs Konsequenzen aus Reaktorunfällen in Japan
Interviewer: JOA SCHMID | NWZ 14.03.2011
Als Konsequenz aus der Reaktorkatastrophe in Japan fordert der Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann, die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken in Deutschland sofort zu stornieren.
Herr Kretschmann, welche Konsequenzen müssen aus der Atom-Katastrophe in Japan gezogen werden?
WINFRIED KRETSCHMANN: Den Begriff Restrisiko muss man aus dem Repertoire streichen. Es zeigt sich, dass dies eine Risikotechnologie ist, die nicht beherrschbar ist. Diese Kernkraftwerke waren für mögliche Erdbeben ausgelegt, aber nicht für so starke. Solch starke Erdbeben hat es in Japan seit es Aufzeichnungen gibt, noch nie gegeben. Man sieht, es können ständig Dinge geschehen, die wir in den Krisenszenarien gar nicht berücksichtigt haben. Wir müssen uns von dieser Technologie verabschieden. Da liegen wir mit unserem Nein einfach richtig. Als erstes müssen Philippsburg I und Neckarwestheim I sofort vom Netz genommen werden
Sie haben an der Menschenkette von Stuttgart nach Neckarwestheim für den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie teilgenommen . . .
KRETSCHMANN: Wir müssen ja hierzulande nicht mit solch schweren Erdbeben rechnen. Aber der Reaktor in Neckarwestheim ist sehr alt, sehr störanfällig und den muss man abschalten. Gleiches gilt wie gesagt für Philippsburg I. Das haben wir schon vor dieser schweren Katastrophe in Japan gefordert. Diese Demonstration hat damit erstmal nichts zu tun.
Was erwarten Sie jetzt von der Bundesregierung?
KRETSCHMANN: Die Bundesregierung muss die beschlossene Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke stornieren und wieder in den Ausstieg einsteigen.
Glauben Sie denn, dass der Atomunfall in Japan den Grünen im Landtagswahlkampf Stimmen bringt?
KRETSCHMANN: Wir spekulieren nicht darauf, dass wir durch solche schweren Katastrophen unser Wahlergebnis verbessern. Aber selbstverständlich wird dies die Diskussion um die Energiepolitik wieder ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken. Wie sich das auf die Wahl auswirken wird, ist nicht entscheidend. Das Entscheidende ist, dass man aus solchen Risikotechnologien raus muss und dass der Druck, das auch zu tun, größer wird, wenn 25 Jahre nach der angeblichen Jahrtausendkatastrophe Tschernobyl schon wieder so etwas passiert. Die Menschenkette war lange vorher geplant. Da kann niemand sagen, dass wir aus einer Katastrophe wahlpolitisch Kapital schlagen wollen.
Was machen Sie im Falle eines Wahlsiegs von Rot-Grün?
KRETSCHMANN: Wir werden der Klage gegen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke beitreten und alles daran setzen, die alten Meiler in Baden-Württemberg still zu legen. Wenn hier nach 57 Jahren die CDU auf die Oppositionsbank kommt, wird es hier eine epochale Änderung der Politik geben, die auch Auswirkungen auf Berlin haben wird.
Die Bundesregierung warnt vor einem zu schnellen Ausstieg, weil noch zu wenig Alternativen vorhanden sind. . .
KRETSCHMANN: Auf die Atomkraft könnte schnell verzichtet werden. Wir haben einen klaren Ausstiegsplan. Die regenerativen Energien boomen ja so, dass man die Forderung für Photovoltaik sogar herunter gesetzt hat. Es kann gar keine Rede davon sein, dass da irgendwelche Stromlücken entstünden.
Auf welche regenerativen Energien setzen sie vor allem?
KRETSCHMANN: In Baden-Württemberg natürlich auf die Windkraft. Die ist ja hier richtig blockiert worden. Wir sind da das absolute Schlusslicht aller Flächenstaaten. Die Blockade der Windkraft muss beendet werden. Man sieht es ja gerade hier in Göppingen, wo ein wichtiges Unternehmen in die Produktion von Windkraftanlagen einsteigen wollte, aber durch große Hürden daran gehindert wurde.
Die Firma Schuler nennt wirtschaftliche Gründe für ihre Änderung der Geschäftspolitik. Es sei zu teuer und man suche deshalb einen Partner.
KRETSCHMANN: Die Auflagen, um hier Windräder aufzustellen, sind einfach zu hoch. Das sind keine guten Anreize für so eine Firma, dann da wirklich auch einzusteigen.