20.02.12 Binder

Antwort an Susanne Brzuske

20.02.2012 von Manfred Binder

Liebe Susanne,
 
danke für dein Schreiben, mit dem du fraglos vielen aus der Seele sprichst und über das wir möglichst offen reden sollten.
 
Über die derzeitige Rolle der Grünen, insbesondere der Grünen in der Landesregierung und Landtagsfraktion in Hinblick auf Stuttgart 21 ist ja schon vieles geschrieben worden. Besser als Boris Palmer und Winne Kretschmann das in den uns allen wohl bekannten Stellungnahmen getan haben, kann ich es, fürchte ich, auch nicht sagen. 
 
Aber auch wenn mir nichts Neues mehr einfällt: Ein persönliches Gespräch, eine Diskussion bei einer der Sitzungen des Aktionsbündnisses und/oder einer öffentlichen Veranstaltung könnte vielleicht helfen, zumindest Missverständnisse und Legendenbildungen – natürlich immer auf allen Seiten – entgegenzuwirken, ein wenig zumindest. Brigitte Lösch wäre z.B. bestimmt bereit, zu einer solchen öffentlichen Diskussion zu kommen, und womöglich auch in der Lage – als eine der ersten Unterzeichnerinnen von gruene-gegen-s21 –, eine vermittelnde Position zwischen den S21-GegnerInnen einzunehmen.
 
Nun aber knapp zu meiner persönlichen Position.
 
Ich selbst unterstütze diesen Aufruf http://www.gruene-gegen-s21.de/page1.php nicht, obwohl sich an meiner Kritik an S21 seit der Volksabstimmung nichts geändert hat. BUCHSTÄBLICH steht in diesem Aufruf zwar nichts wesentliches, das ich nicht unterschreiben könnte. Aber ich denke, so wie der Aufruf formuliert und präsentiert wird, wird er dahingehend verstanden, dass es eine Kritik an den Grünen in der Landesregierung und an der grünen Landtagsfraktion ist, weil die das angeblich ganz anders sehen. Formulierungen wie "Forderungen an unsere GRÜNEN Freunde in Amt und Würden, bei uns in Baden-Württemberg und bundesweit, in Bezug auf Stuttgart 21, die es zu unterstützen gilt (…)" oder "Wir fordern: Wahlversprechen sind bei den Bürgern und Parteimitgliedern unbedingt einzulösen." behaupten zwar, streng genommen, nicht, dass derartige Forderungen nötig wären und die Grünen "in Amt und Würden" in der Gefahr stünden, Wahlversprechen zu brechen, aber sie suggerieren es und werden auch so verstanden. Das halte ich aber für unwahr, mehr noch: für groben Unfug, dessen Behauptung oder Unterstellung dem Ansehen der Partei schadet, was natürlich zu begrüßen wäre, wenn es denn wahr wäre. Kitty Lösch scheint das anders zu sehen, ich hatte aber bislang keine Gelegenheit, mir das von ihr erklären zu lassen.
 
Ich weiß gar nicht, wie überhaupt der Eindruck entstehen kann! Glaubt denn irgendwer tatsächlich, Leute wie Kretschmann, Hermann und Palmer hätten uns all die Jahre nur angelogen, um Wählerstimmen zu ergaunern, aber wären insgeheim schon immer oder jetzt plötzlich S21-Fans? Und jetzt, wo sie an der Macht sind, zeigten sie ihr wahres Gesicht? Oder glaubt das wer von mir?
 
Das Problem ist doch: Weder der Tübinger Oberbürgermeister, noch der Stuttgarter Ministerpräsident, noch der Stuttgarter Verkehrsminister (nochnochnoch) können im Moment irgendwas an S21 und den Baumaßnahmen ändern: Sie sind weder Bauherr, noch Aufsichtsbehörde. Das Land Baden-Württemberg finanziert S21 nur (mit), aber solange es für das Ende dieser Finanzierung weder im Landtag noch im Volk eine Mehrheit gibt, lässt sich daran von niemandem etwas ändern. Das Thema haben wir ausgereizt.
 
Auf welcher rechtlichen Grundlage soll dann Kretschmann, soll Hermann, soll die grüne Landtagsfraktion denn jetzt etwas machen, und was eigentlich genau? Vielleicht habe ich es überlesen, aber ich habe in den einschlägigen Stellungnahmen keine pfiffigen Ideen gefunden, außer ein großes Misstrauen, dass "die da oben" auch wirklich alles machen, was sie können und dürfen, bis hin zur angeblichen Gewissheit, dass das eh alles Gauner und Betrüger sind.
 
Was sollte also aus Sicht der GrünenkritikerInnen getan werden? Sollen die Grünen z.B. aus der Regierung austreten und einer schwarz-roten Regierung unter einem Ministerpräsidenten Hauk das Feld überlassen? Was wäre damit gegen S21 gewonnen? Wir Grüne hätten dann halt auch in allen anderen Fragen der Landespolitik nichts mehr zu sagen, nicht bei der Energiewende, nicht bei den Bildungsreformen, nicht bei der Integrationspolitik,…
 
Soll die grün-rote Regierung der Bahn den Polizeischutz verweigern? Auf welcher Grundlage denn? Die SPD würde die Regierung kündigen, nein: das bräuchte sie ja gar nicht, denn die Polizei untersteht gar keinem Minister von den Grünen, sondern dem sozialdemokratischen Innenminister. Ob der der Polizei überhaupt untersagen könnte, den Bau und die Baumfällungen zu schützen, weiß ich nicht, jedenfalls wäre die Polizei an eine solche offenkundig rechtswidrige Weisung meines Wissens nicht gebunden, und die zuständigen Gerichte würden eine solche Weisung in Nullkommanix kassieren. Denn: Wie die Gerichte – und es sind Gerichte und nicht die Regierungsgrünen, die in dieser Hinsicht das letzte Wort haben – immer und immer wieder verkünden: Die Bahn hat Baurecht, so widersinnig wir das auch immer finden mögen. Und auch der Schlichterspruch ist – wie eben wieder, wenig überraschend, gerichtlich festgestellt wurde – in keiner Weise rechtlich bindend. Das wäre ja auch noch schöner, wenn Heiner Geißler hier einfach Recht sprechen könnte! Die Regierung kann nur bitten und betteln, dass die Bahn ihr Baurecht erstmal nicht wahrnimmt. Und das tut sie, genauso wie der BUND, das Aktionsbündnis usw. usf., aber sie werden alle nicht erhört. Wir können jammern, argumentieren, werben, fordern – mehr nicht. Und, soweit ich sehe, tun wir das ja auch alle. Vielleicht nicht immer geschickt, taktisch klug und argumentativ brilliant, aber das gilt mal wieder für alle Beteiligten und ist an sich noch kein Grund, an guten Absichten zu zweifeln.
 
Dass es anders geartete Rechtsauffassungen als die der zuständigen Gerichte gibt, dass die Bahn (und ich weiß nicht, wer sonst noch alles) lügt, gelogen hat und bestimmt auch immer mal wieder lügen wird (bzw. manchmal auch einfach mal zur Abwechslung ganz ohne schlechte Absicht Blödsinn erzählt), ob der Stresstest manipuliert und die SMA geschmiert war oder ob Heiner Geißler schon auch mal unter bewusstseinsverändernden Drogen zu stehen scheint, ändert an all dem gar nichts. Im übrigen ist auch das, was von den KritikerInnen kommt, nicht immer die reinste und lauterste Wahrheit. Das ist halt so in der Politik.
 
Wohlgemerkt: Ich habe bislang nur von Macht und Recht gesprochen, nicht von Legitimation. Das kommt aber, für mich zumindest, noch dazu: Ein Regierungs- oder Parlamentshandeln gegen den in einer Volksabstimmung erklärten mehrheitlichen Volkswillen und gegen eine durch eine Wahl erzeugte Parlamentsmehrheit und gegen einer von zuständigen Gerichten in ordentlichen Verfahren festgestellten Rechtslage ist meines Erachtens illegitim, auch wenn man durch was auch immer die Macht dazu hätte. Es gibt Ausnahmen für diese Regel, z.B wenn es um die Verhinderung eines Atomkriegs oder die Verletzung der Grund- und Menschenrechte oder allgemein um Verfassungsbrüche geht, aber der Bau von Stuttgart 21 fällt unter keine dieser Kategorien. Dass da im Vorfeld einer Wahl oder Abstimmung gelogen und viel Geld geflossen und manch fragwürdige Resolution verfasst wurde, macht eine solche Wahl oder Abstimmung nicht illegitim, weil: Derartiges passiert bei jeder Wahl oder Abstimmung. Ansonsten können wir uns das mit der Demokratie und dem Rechtsstaat gleich schenken. Um eine Wahl oder Abstimmung berechtigterweise anzufechten, bedarf es schon deutlich schwererer Verfehlungen, worüber dann auch wiederum Gerichte befinden müssen. 
 
Aber lasst uns das im geeigneten Rahmen weiterdiskutieren!
 
Danke, dass Ihr so lange durchgehalten habt, obwohl ich so wenig Neues zu sagen wusste.
 
Beste Grüße
manfred

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