24.06.12 Perspektiven GP

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Bildungspolitsiche Handlungsperspektiven für den Kreis Göppingen

angelehnt an Prof.Dr.Dr. Fthenakis, Eröffnung Didacta 2011 –
zur Person: http://www.fthenakis.de/c2/Leben/
von Walter Kißling, 24.06.2012

Erläuterung. Die durchnummerierten, fett gesetzten Abschnitte sind von mir. Sie beziehen sich jeweils auf die vorangehende These von Fthenakis
"Zehn Punkte für mehr Gerechtigkeit und höhere Qualität im Bildungssystem"

 

Wir müssen Bildung endlich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachten. Eltern und pädagogische Praxis, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft tragen gleichermaßen Verantwortung für Bildung.

1. Wir greifen auf, dass die Erziehungswissenschaft dringenden Handlungsbedarf einfordert und Bildung auch in die Verantwortung der Zivilgesellschaft stellt. Daher wollen wir einen Diskussionsprozess unter den verschiedenen, oben angesprochenen gesellschaftlichen Akteuren auf der lokalen Ebene vorantreiben, denn das Thema Bildung muss unten ankommen und es müssen – und können – auch auf örtlicher Ebene konkrete Problemlösungen gefunden werden.
So hat z. B die Wirtschaft das Bildungsthema entdeckt und vertritt teilweise sehr fortschrittliche bildungspolitische Positionen, auf deren Grundlage sich eine fruchtbare Zusammenarbeit anbietet. (siehe BDA, „Bildung schafft Zukunft 2012“ http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/id/DE_Broschueren_-_Bildung)

Wir müssen die Bildungsprozesse radikal umbauen. So müssen Institutionen übergreifend gestaltet werden und aufeinander aufbauen. In Deutschland sorgen verschiedene Philosophien auf den einzelnen Bildungsstufen immer noch für individuelle und soziale Ungerechtigkeit. Ein Beispiel: In den Kitas sind die Kinder aktiv, die Fachkräfte hingegen eher passiv. In der Grundschule kehren sich diese Rollen komplett um. So gehen Bildungseffekte verloren und das System benachteiligt vor allem die Gruppen, die unsere Hilfe am nötigsten haben: Die empirische Bildungsforschung spricht von etwa einem Drittel aller Kinder und zählt dazu vor allem die jüngeren Kinder eines Jahrgangs, die Jungen, die Kinder mit Migrationshintergrund und die Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten.

2. Wir schlagen einrichtungs- bzw. schulartübergreifende Gesprächsrunden der Akteure aus den verschiedenen Bildungseinrichtungen vor, in denen die jeweiligen pädagogischen Selbstverständnisse und Problembeschreibungen ausgetauscht werden. Ziel: gegenseitige Bereicherung, Wertschätzung und Formulierung einer weitgehend durchgängigen pädagogischen Philosophie, in welcher die Stärken der Kinder/Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Eine Begleitung durch Erziehungswissenschaftler ist sinnvoll

Wir müssen Diversität endlich als Bereicherung und als erweiterte Lernchance begreifen. Nur so werden wir das Integrationsproblem lösen. Gerade der Elementarbereich und die Grundschule können dazu beitragen. Denn Integration wird im Bildungsverlauf vor allem dann gelingen, wenn sie früh beginnt.

3. Wir schlagen vor, gute Beispiele aus dem Elementar- und Grundschulbereich, die durch eine positive Sicht von Diversität gekennzeichnet sind und bei denen Integration vorangebracht wird, vorzustellen, z.B. im Rahmen der interkulturellen Woche.

Wir müssen in erster Linie die Stärken eines jeden Kindes identifizieren und diese weiter stärken. Unsere Bildungseinrichtungen sind allerdings primär daran interessiert, die Schwächen der Kinder zu kurieren. Dabei hat die Familienforschung eindrucksvoll bewiesen, dass menschliche Schwächen eine bemerkenswerte Veränderungsresistenz aufweisen. Systeme, die auf Schwächen setzen, tragen zur eigenen Ineffizienz bei.

4. Wir schlagen vor, bei den schulartübergreifenden Gesprächsrunden den Focus besonders auf das Konzept „Ansetzen bei den Potentialen und Stärken“ zu legen und die in der Gesellschaft vorherrschende defizitorientierte Sichtweise zu überwinden. Dies ist besonders im Blick auf die im aktuellen Bildungsbericht genannten 20 % Bildungsverlierer notwendig.

Wir müssen die Fokussierung auf die Bildungsinstitutionen überwinden. Kinder erlangen Kompetenzen vor allem außerhalb der Kitas oder Schulen, insbesondere in den Familien und in weiteren Lernorten. Deshalb müssen wir ein Konzept entwickeln, das alle Bildungsorte einbezieht. Damit wird auch sozialer und kultureller Vielfalt angemessen Rechnung getragen. Davon profitieren die Kinder und die Effizienz des Bildungssystems.

5. Wir schlagen vor, die Bedeutung der Kommune und des Gemeinwesens als Bildungs- und Erziehungsort sichtbar zu machen, zunächst an drei Anknüpfungspunkten
 
5.1. Gute Verfahren und Konzepte aus den Gemeinden aufgreifen (z.B. Göppingen)
5.2. Im Kontakt mit den Gemeinschaftsschulen im Kreis die Verankerung von (Kindergarten) und Schule im Gemeinwesen zu diskutieren. (Begründung: die GS sind derzeit die innovativsten Schulprojekte; es finden dort in und außerhalbe der Schule intensive päd. Diskussionen statt. Außerdem zielt ihr Konzept von der Sache her auf die Integration in das Gemeinwesen.). Personelle Ressourcen und Kooperationen sollen dort gefördert werden.
5.3. Gespräch mit den Bürgermeistern

Wir müssen eine Partnerschaft von Familien und Bildungsinstitutionen etablieren. Familie und Bildungsinstitution sind Ko-Konstrukteure derselben kindlichen Bildungsbiografie. Deshalb muss den Familien die Möglichkeit eröffnet werden, an dem Geschehen der Bildungsinstitution teilzuhaben und diese mit zu gestalten. Die bisherige sogenannte Elternarbeit muss überwunden werden.

6. Dies ist vor allem Aufgabe der Schulen.
Im Blick auf die Kindergärten wollen wir uns dafür einsetzen, dass diese zu Familienzentren weiterentwickelt werden. Die Träger sollen die Ressourcen dafür bereitstellen, dass die Tageseinrichtungen zu Kommunikationsorten für die Familien werden. Da aufgrund des verschärften ökonomische Drucks und Veränderungen in den Lebenssituationen und dem Erziehungsverhalten von Familien für diese immer mehr Beratungs-, Stützungs- und Interventionsbedarf entsteht – die Kindertagesseinrichtung ist der Ort mit niederschwelligem Zugang und engem Familienkontakt – müssen die Träger Ressourcen und qualifiziertes Personal für die Arbeit mit den Familien bereitstellen. Dies ist eine Investition, die sich auch ökonomisch lohnt.
Allerdings ist auch darauf zu achten, dass die Tageseinrichtung (und Schulen) einen eigenständigen Erziehungsauftrag haben, der gegenüber den Partialinteressen und oft einseitigen Interessen von Eltern eine gewisse Autonomie benötigt.

Wir müssen den sozialen Räumen mehr Aufmerksamkeit schenken. Neuere Forschung bestätigt, dass sich in bestimmten Stadtteilen Faktoren identifizieren lassen, die sich negativ oder positiv auf die kindliche Entwicklung und die schulische Leistung auswirken. Wir benötigen eine kreative Verbindung von Bildungs-, Familien-, Jugend- und Kommunalpolitik. Das politische Ziel, jede Gemeinde auf diese Weise zu einem großen Bildungsort werden zu lassen, muss neben der Reform des Bildungssystems und der Stärkung elterlicher Kompetenz, die dritte Säule des (erweiterten) Bildungssystems sein.

Siehe Punkt 5

Wir müssen alle pädagogischen Fachkräfte auf hohem Niveau qualifizieren, mit allen Konsequenzen auch für deren Vergütung. Denn mit der Qualität ihrer Arbeit steht und fällt der Erfolg in den Bildungsinstitutionen, die sich mit stetig steigenden Anforderungen auseinandersetzen müssen. So müssen beispielsweise Erzieherinnen heute nicht nur über fundierte wissenschaftliche Kenntnisse auf den Gebieten der Entwicklungspsychologie, der Neurowissenschaften und der Erziehungswissenschaften verfügen, sie sind auch gehalten, Bildungsprozesse so zu organisieren, dass kindliche Kompetenzen gestärkt werden. Dafür ist nicht nur eine elaborierte Didaktik erforderlich, die es bislang nicht gab. Sie haben auch eine Reihe von Fachkompetenzen zu entwickeln, wie z. B. die Interaktionskompetenz, die Reflexionskompetenz, Beobachtungs- und Dokumentationskompetenz, um nur einige anzudeuten. Die Individualisierung von Bildungsprozessen, ein anderer Umgang mit Vielfalt und die Einbettung des Bildungsprozesses in den sozialen und kulturellen Kontext stellen neue Herausforderungen dar. Der Ausbau der Bildungsangebote für unter dreijährige Kinder, die Etablierung einer Bildungspartnerschaft mit der Familie und eine Vernetzung mit weiteren Bildungsorten stellen weitere Anforderungen, denen die Fachkräfte nur mit dem Erwerb zusätzlicher Kompetenz wirkungsvoll begegnen können. Schließlich verlangen die Institutionen übergreifenden Bildungspläne nach neuen Wegen der Kooperation zwischen dem Elementar- und dem Primarbereich.

7. Wir wollen uns für die Qualitätsentwicklung bei den Fachkräften im Elementarbereich einsetzen. Gute Tageseinrichtungen sind ein wichtiges Standortmerkmal und mit die effektivsten Zukunftsinvestitionen. Wir wollen uns in die derzeitige Diskussion um eine Schnellqualifizierung von Arbeitslosen (Schleckerfrauen, Harz IV)) einbringen und deutlich machen, dass eine solche unserem Standard als wohlhabendem Industrieland unangemessen ist, der Qualität der Einrichtungen schadet und zu einem Rückgang an qualifiziertem Personal führt, da der ErzieherInnenberuf abgewertet wird. Wir wollen uns für eine stärkere Wertschätzung erzieherischer Berufe einsetzen.

Wir müssen mehr und effektiver in Bildung investieren. Deutschland investiert nach wie vor unzureichend in Bildung. Die Bundeskanzlerin hat zwar die "Bildungsrepublik" ausgerufen, aber die von ihr initiierten Bildungsgipfel blieben weitgehend ohne Erfolg. Deutschland gibt – gemessen an seiner Wirtschaftskraft – mit 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einen Prozentpunkt weniger für Bildung aus als die OECD-Länder im Durchschnitt. Das Ziel, bis 2015 sieben Prozent des BIP in Bildung zu investieren, liegt in weiter Ferne. Gerade der Elementar- und der Primarbereich bleiben unterfinanziert, obwohl sie das Fundament für kindliche Bildungsbiografien bilden.

Dies ist deshalb verwunderlich, da Studien die hohe Effizienz solcher frühen Investitionen nachgewiesen haben. Den Bildungsinstitutionen fehlen vielfach die ökonomischen Voraussetzungen, um hohe Bildungsqualität zu sichern und eine für gelungene Integration erforderliche Differenzierung und Individualisierung der Bildungsprozesse vorzunehmen. Dabei tragen diejenigen Kinder die Konsequenzen, deren Familien nicht in der Lage sind, solche Defizite auszugleichen.

Der Reformbedarf in den Bildungsinstitutionen ist groß, die Situation jedoch vielerorts verheerend. Die Etats der Bildungsträger werden aufgrund der katastrophalen Haushaltslage vieler Kommunen zusammengestrichen, so dass für die Ausstattung immer weniger Geld übrig bleibt. Es gibt aber keine Reform zum Nulltarif: Wer die bestehenden Defizite des deutschen Bildungssystems in Angriff nehmen will, der muss die notwendigen finanziellen Mittel dafür bereitstellen und dazu zählen auch zusätzliche Ressourcen für die Ausstattung und Einrichtung der Bildungsinstitutionen.

8. Wir wollen uns einsetzten
8.1. im Blick auf die Bundestagswahl für eine angemessene Steuererhöhung gezielt zur Bildungsfinanzierung. Die Länder und Kommunen müssen finanziell besser ausgestattet werden, insbesondere für
– den quantitativen Ausbau und die Qualitätssteigerung der Tageseinrichtungen für Kinder,
– die Förderung der Inklusion
– den Ausbau von Ganztagesschulen
8.2. dass vor Ort die Prioritäten im Bereich Bildung gesetzt werden, insbesondere im Elementar- und Primarbereich, da dieser in Deutschland unterfinanziert ist.
8.3. für situativ entwickelte neue Finanzierungsmodelle, z.B. Sponsoring, Anleihen, Patenschaften.

Wir müssen darüber diskutieren…

  • wie lebenslanges Lernen auf allen Bildungsstufen gelingen kann,
  • wie neue Medien sinnvoll in den Bildungsprozess integriert werden können,
  • welche Maßnahmen den Übergang in die berufliche Bildung erleichtern,
  • was gegen den drohenden Fachkräftemangel getan werden kann,
  • wie Wirtschaft und Bildung voneinander profitieren und
9. Wir wollen uns in die augenblickliche bildungspolitische Entwicklung einschalten:
9.1. – eintreten für das Konzept des individualisierten und gemeinsamen Lernens in der Gemeinschaftsschule (und darüber hinaus) und versuchen, Kontroversen aufzugreifen und Gräben zu überwinden (z.B. Widerstände verschiedener Lehrerverbände gegen die Gemeinschaftsschule).
9.2. – eine wirkungsvolle regionale Schulentwicklung einfordern, welche die Bedürfnisse der Kinder und Eltern in den Mittelpunkt stellt und nicht Standortsicherung, Konkurrenz der Gemeinden und der Schulsysteme, Privilegien usw.
9.3. – für eine Überwindung der Zersplitterung des Schulsystems und inklusives Lernen wirken.
9.4. – die soziale Ungerechtigkeit unseres Bildungssystem thematisieren (Antje Berg, SPW 23. 6. „Zu viele Kinder aus der Unterschicht bleiben dort, wo sie herkommen, sind die ewigen Schmuddelkinder, weil zu allererst andere Wählerschichten bedienet werden sollen.“) – denn wir können auf keine Talente verzichten.

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